Heiliges Bimbam

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 5. Oktober

Ich bin keine zwölf Himmel-und-Hölle-Felder entfernt von einer Kirche aufgewachsen. Wahrscheinlich bedeutet deshalb Glockengeläut für mich Heimat. Das heilige Bimbam gehört zum Sound meiner Kindheit, und den vergisst man nicht so leicht. Deshalb berührt es mich auch jedes Mal, wenn am Samstagabend im Schweizer Radio die Kirchenglocken erklingen, um den Sonntag einzuläuten.

Jedes Mal stelle ich mir dann den Tontechniker vor, der das Glockengeläut aufnimmt. Für mich heisst er Heinz. Seit Jahrzehnten schon, da bin ich mir sicher, reist Heinz kreuz und quer durchs Land, in verschlafene Städtchen und entlegene Bergtäler, um das Glockengeläut einzufangen. Es gleicht einem Ritual, wie er sein Mikrofon platziert und den Aufnahmeknopf rechtzeitig drückt, um ja nicht den ersten Glockenschlag zu verpassen, das zaghafte Anschlagen des Klöppels gegen die Messingglocke. Er liebt diese Momente, wenn sich die Glocken einschwingen wie Zirkusartisten an ihrem Trapez, wenn sich das helle Bimmeln der kleinen Glöckchen mit dem dunklen Schlag der grossen Glocke zu einem unvergleichlichen Geläut verbindet.

Heinz hat ein Ohr entwickelt für die feinen Unterschiede, kein Glockenstuhl birgt dieselbe Klangwelt; ja, der Tontechniker würde noch nach 30 Jahren jede Kirche, die er einmal besucht hat, an ihrem Geläut erkennen. In «Wetten, dass …» hätte er damit gewinnen können. Aber der grosse Auftritt liegt ihm nicht, den überlässt er den Glocken. Er ist ein stiller Mensch. Gewissenhaft. Aber nicht fromm. Er besucht nie einen der Gottesdienste, zu denen die Glocken rufen. Aber das Geläut ist ihm heilig.

Er ist getauft, gewiss, gehört einer Konfession an. Aber darüber reden mag er nicht. Glocken kennten keine Konfession, sagt er bisweilen, sie klängen nur gut oder schlecht. Das habe er im Gehör. Schon manch ein Pfarreirat hat aufgrund seiner Expertise den Klöppel auswechseln lassen und damit dem Geläut zu mehr Wohlklang verholfen. Was ihm durch den Kopf gehe, wenn er eine Aufnahme mache, wurde er schon gefragt. Nichts Besonderes, hat er entgegnet. Nur Schall und Klang.

Jedes Wochenende ist Heinz unterwegs, nach der Aufnahme kehrt er meist in der Dorfbeiz am Kirchplatz ein. Manchmal kommt es vor, dass der Wirt ihn fragt, was ihn in dieser Jahreszeit in diese gottverlassene Gegend verschlagen habe. Dann holt Heinz sein Aufnahmegerät hervor und spielt das Geläut ab, das er soeben aufgenommen hat. Für einen Moment verstummen die Gespräche in der Gaststube, dann stellt der Wirt ihm seinen Kaffee hin und sagt: «Jä so, Sie sind das mit den Glocken.» Und der Kaffee gehe dann übrigens aufs Haus.

Mein Philosofa

Beitrag im «Nebelspalter»

Mein Canapé ist tiefgründiger als ich, aber nicht, weil es durchgesessen wäre, nein: es ist ein Philosofa. Was wohl daher rührt, dass es den ganzen Tag nur rumsteht, mit dem Rücken zur Wand. Da kommt man natürlich schnell ins Grübeln über existenzielle Fragen wie: Bin ich wirklich ein Sofa? Und wenn ja, für wie viele?

Ich habe es Immanuel getauft, auch wenn es aus Fichte ist. Der Bezug hat diesen speziellen Rot-Ton, man sagt ihm, glaub ich, «Rousseau». Dazu Knöpfe aus Lessing. Wenn man sich draufschlegelt, machen die Federn leise «Nietzsche». Es ist recht bequem, aber manchmal geht es mir echt auf den Hegel mit seiner Philosofiererei.

«Ich denke, also bin ich. Oder denke ich nur, dass ich bin und bin gar nicht, was ich denke? Nicht auszudenken», sagt es zum Beispiel. «Ich denke, du bist, weil du gemacht worden bist», sage ich. «Das bist du auch.» «Aber anders. Gezeugt, nicht gezimmert.» «Genagelt wurde bei beiden.» «Jetzt hör aber auf, Immanuel. Das ist unterste Schublade.»

«Wieso muss eigentlich immer ich herhalten, wenn ihr schmutziges Zeugs redet?», reklamiert die unterste Schublade der Kommode eingeschnappt. «Weil es so kommod ist», säuselt der Luftbefeuchter, sonst nicht gerade bekannt für trockenen Humor. «Aber das ist ungerecht», beharrt die Schublade. «Tja, ähm, also…», sage ich. «Mehr fällt dir dazu nicht ein?», ätzt der Nachttisch, der eigentlich ganz süss wäre, hätte er nur ein t weniger. «Sogar dein Canapé ist tiefgründiger als du.»

«Das wäre ein schöner erster Satz für eine Kolumne», sage ich. «Da, er klaut schon wieder», ruft die billige Eames-Chair-Kopie, «darf er das überhaupt?» «Legal, illegal, Scheissegal», plärrt der anthrazitfarbene Stereoanlagen-Turm dazwischen, den alle nur den schwarzen Block nennen.

Da kommt meine Frau ins Zimmer und kuschelt sich zu mir aufs Sofa. «Liebes Mobiliar», sagt sie, «könntet ihr mal eure Klappe halten? Ich möchte jetzt nämlich ein bisschen ungestörte Zweisamkeit.»

«Und ich habe gedacht, ich sei deine einzig wahre Liege», sagt das Sofa und macht einen sauren Wittgenstein. «Ich steh gar nicht auf dich », sage ich. «Aber ich bin besessen von dir», gesteht das Sofa. «Klappe, Immanuel», sagt meine Frau.

Das einzige, was man dann noch hört, ist ein leises «Nietzsche-Nietzsche-Nietzsche».

Wer Möbelwitze mag, dem gefällt vielleicht auch die Kolumne «Total vermöbelt». (Ein paar Wortspiele kommen in beiden Texten vor.)

Postkartengrüsse aus dem Corona-Sommer

Übrigens in den «Freiburger Nachrichten» vom 16. Juli 2020

Hej, ihr Lieben, Schweden im Sommer ist super. Von wegen kühle Skandinavier, die sind überraschend heissblütig, fiebrig fast schon. Und erst die Lebensfreude – einfach ansteckend. Und das Beste: Wenn wir zurückkommen, können wir uns noch zehn Tage zu Hause erholen. Skål! Billy & Ivar

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Lieber Ruedi, heute waren wir zum ersten Mal auf dem Jungfraujoch. Grandios. Wie schön die Schweiz eigentlich ist, merkt man eben erst, wenn all die Ausländer mal nicht da sind. Aber nächstes Jahr dann wieder Phuket, gäll? Das chinesische Essen ist einfach schon megafein. Und so ein bitzeli Exotik erweitert ja auch den Horizont. Heimatliche Grüsse aus der schönen Schweiz! Sonja, Vreni, Peter

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Mann, Alter. 1 geile Party in Tsüri mit voll sozialem Tischdancing = 10 Tage Pyjamaparty dihäim. Krass krank. Dabei kommt Corona doch von Fledermaus. Kann ich ja nicht wissen, dass du es auch im «Flamingo» kriegst. Sonst wär’s doch Vogelgrippe?! Scheissviecher! Häb dich Sorg, Bro!

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Ciao Thomas, von wegen «Venedig sehen und sterben». Auch am dritten Tag in der Lagunenstadt spür ich höchstens ein Kratzen im Hals. Die Medien übertreiben eben alles. Auch der Karneval ist solala: Alle tragen dieselben langweiligen Masken. Kein Vergleich mit unserem Morgestraich. Basil

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Liebes Mami, die RS ist voll öde. Immer nur Gewehr-Figg. Mit Schutzmaske. Der erste in unserer Kompanie hat trotzdem schon Corona. Wenn ich heil hier rauskomme, mache ich Zivildienst. Was Nützliches, anderen helfen; auch für Drecksarbeit im Altersheim wäre ich mir nicht zu schade. Übrigens: Ich habe dir gestern die Schmutzwäsche nach Hause geschickt. Wo bleibt mein Fresspäckli? Du bist die Beste, Raffi.

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Sehr geehrter Herr Blocher. Wie gewünscht überweisen wir Ihnen rückwirkend Ihr Ruhegehalt in Höhe von 2,7  Millionen Franken. Einen unbeschwerten Sommer wünscht Ihnen Ihre Bundeskanzlei.

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Kurzarbeit. Kohle knapp. Kurzurlaub Konolfingen. Kacke, Kacke, Kacke. Kurt.

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Lieber Alain, dass deine Sommerferien baden gehen, weil grad die zweite Welle auf uns zurollt, ist natürlich blöd. So mit Abstand betrachtet, hätten wir die Sache mit den Masken vielleicht doch früher aufgleisen sollen. Aber die Lage ändert sich eben ständig, alles ist im Fluss. Auch ich. Entspannte Grüsse aus der Aare, dein Daniel Koch.

Wir Glutgläubigen

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 9. Juni 2020

Beim Grillieren komme ich ins Grübeln. Ja, auch über die Frage, ob unser Fleischkonsum vertretbar ist. Was er, um es kurz zu machen, nicht ist. Wir alle wissen, dass weniger Fleisch besser wäre, und greifen dann doch zum toten Tier im Aktionsangebot, denn wie schon der Evangelist Matthäus wusste: «Das Fleisch ist billig und der Geist ist schwach.»

Aber keine Angst, ich will nicht unnötig Wurstfett ins Feuer der Klimadiskussion giessen. Mich treibt eher die Frage um, ob wir als Glutbürger geboren werden oder wann und wieso wir in die Fänge der Grillitarier geraten, wie die Migros die Sekte der Glutgläubigen treffend betitelt, die allabendlich Brandopfer darbringen auf ihren Feuerschalen und Weber-Grills, um die Götter des Feierabends versöhnlich zu stimmen, getreu ihrem Credo: «Möge die Marinade immer mit uns sein.»

Dass vor allem Männer Feuer und Flamme fürs Bräteln sind, lässt sich küchenpsychologisch so deuten, dass bei diesem archaischen Akt die patriarchale Welt noch in Ordnung zu sein scheint. Der Mann zähmt die wilde Kraft des Feuers – die Frau macht die Salate. Dass es deutlich weniger Mut und Männlichkeit verlangt, den Gasgrill anzuwerfen, als mit lautem Uga-Uga das Lagerfeuer aus der Höhle des Urmenschenstamms von nebenan zu klauen, darüber tröstet ein kühles Bierchen prima hinweg.

Oder geht die Faszination fürs Grillieren tiefer? Rührt sie vielleicht gar an die Grundfragen unserer Existenz? Neulich sagte die deutsche Putz-Philosophin (ja, das gibts) Nicole C. Karafyllis in einem Interview, unsere Abneigung gegen Staub rühre daher, dass er uns an unsere eigene Vergänglichkeit erinnere – Staub zu Staub. Wenn dem so wäre, wieso ist dann das Grillieren Volkssport Nr.  1? Es heisst doch auch «Asche zu Asche»? Und lässt man die Wurst zu lange auf dem Grill, kommt das ja auch einer Feuerbestattung gleich.

Oder legen wir gerne Fleisch aufs Feuer, gerade weil uns das Grillieren daran erinnert, dass wir – egal ob grosses Tier oder kleines Würstchen – am Ende in einer Urne Platz haben? Ein Memento mori, mit dem wir uns gleichzeitig unserer Lebendigkeit versichern. Denn wer die Grillzange in der Hand hat, hat den Löffel noch nicht abgegeben. Und was da auf dem Grill verkohlt, sind nicht wir, sondern das Kotelett. Noch mal Schwein gehabt.

Zugegeben, eine ziemlich steile These. Auf die allerdings lange vor mir bereits der Volksmund gekommen ist – und Volksmund tut Wahrheit kund: «Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.» Besser hätte ich das auch nicht auf den Punkt garen können.

In diesem Sinne: Möge die Marinade mit Ihnen sein.

Verschwörungspraktiker

Beitrag im «Nebelspalter» vom Juni 2020

Ich glaube nicht an Verschwörungstheorien. Die hat sowieso alle die Regierung in die Welt gesetzt. Als Ablenkungsmanöver. Ich meine, Chemtrails? Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass die Regierung mit Flugzeugen über den Wolken Chemikalien versprühen lässt, um uns zu willenlosen Zombies zu machen? Hallo? Homöopathie am Himmel? Das funktioniert noch weniger als mit Kügeli. Das kann sich nur so ein Globulisierungsfuzzi ausgedacht haben, den der Nachrichtendienst direkt ab der Rudolf-Steiner-Schule engagiert hat.

Aber es funktioniert. Alle reden über Chemtrails, aber niemand spricht darüber, wie die Regierung wirklich Macht über unsere Gehirne erlangt: die Abstimmungscouverts! Ist Ihnen beim Zukleben, wenn Sie mit der Zunge über die Lecklasche fahren (die heisst wirklich so!), noch nie aufgefallen, dass der Leim irgendwie seltsam schmeckt? Gälled Sie, ist doch so? Da sind hochaktive psychedelische Sustanzen drin, die gehen direkt ins Hirn – darum heisst es ja auch direkte Demokratie. Neben dem Waschküchenschlüssel die zweitbeste Erfindung, um uns Schweizer zu kontrollieren. Was einmal mehr beweist, dass oben in Bern keine Verschwörungstheoretiker am Werk sind, sondern Verschwörungspraktiker, die ihr Handwerk verstehen. Eidgenössisch diplomierte Verunsicherungsagenten, Lügenschreiner mit Berufsmatura und dual gebildete Faktenspengler (die kennen sich aus mit Dichtung).

Sie glauben mir nicht? Wieso geht es denn in der Schweiz mit dem E-Voting nicht voran, he? Weil man die Computermaus zum Abstimmen nicht abschlecken muss, deshalb!

«G-g-g-g-g-orona»

Und jetzt Corona. Natürlich hat das Virus nichts mit G5 zu tun, ausser man ist ein stotternder St. Galler: «G-g-g-g-g-orona». Unfug ist auch die Theorie, das Virus sei aus einem chinesischen Hochsicherheitslabor entwichen. Es stammt nämlich eindeutig aus einer illegalen Hundemetzgerei aus dem Appenzell-Innerrhodischen. Die Beweislage ist erbrechend. Ich sag nur Gulasch, aber nicht ungarisch, sondern un-gar. Und vom Appenzell aus hat das Virus seinen Siecheszug um die Welt angetreten. Das kommt davon, wenn man auch Entwicklungsländer ans Glasfasernetz anschliesst. Meine Meinung.

Die grosse Frage ist natürlich: Wieso hat Berset nicht schon vor Jahren die Hundemetzg eigenhändig ausgehoben? Hat der Ungesundheitsminister gar ein Interesse daran, dass Corona viral geht? Nimmt er Schmiergeld von der Klopapiermafia? Eine Hand desinfiziert die andere? Da lüpft es mir glatt den Aluhut. Ganz koscher ist der Berset auf jeden Fall nicht. Oder ist Ihnen noch nie aufgefallen, dass seine polierte Glatze keine Kugel ist, sondern eine Scheibe? Achten Sie auf den Schattenwurf, oder den fehlenden Schattenwurf, je nach dem. Wenn man erst einmal gewillt ist, die Wahrheit zu sehen, fällt es einem plötzlich wie Schuppen von den Echsenmenschenaugen.

Ein Volk von Verschwörungstheoretikern

Oder steckt etwas noch Grösseres hinter der Pandemie? Sind es am Ende gar die Verschwörungstheoretiker selber, die das Virus in Umlauf gebracht haben? Um uns alle zu Verschwörungstheoretikern zu machen? Welch perfide Genialität! Angst, Unsicherheit, eine tödliche, aber unsichtbare Gefahr – der ideale Nährboden, auf dem Verschwörungstheorien wild wuchern.

Und erst der Slogan «Bleiben Sie zuhause». Reinste Heimtücke im Gewand der Verantwortung und Rücksicht. Seit Wochen sind wir zuhause eingesperrt, wir haben schon mit den Wänden zu reden begonnen – und irgendwann haben die Wände geantwortet. Das ist, was die Verschwörungstheoretiker mit der Pandemie wollen: Dass wir alle so bekloppt werden wie sie. Denn wenn bekloppt das neue normal ist, dann sind sie keine Verschwörungstheoretiker mehr, sondern weitsichtige Leader, die das alles immer schon vorausgesehen haben.

Begeistert werden wir ihre Namen auf die Wahlzettel schreiben und glücklich das Couvert abschlecken und uns kein bisschen wundern über den seltsamen Geschmack in unserem Mund.

Geile Grillen

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 27. Mai 2020

Bitte bestätigen Sie vor dem Weiterlesen, dass Sie älter als 18 Jahre sind.

Jetzt stridulieren sie wieder, die Grillen im Garten. Und wenn Sie bei Stridulation an eine abartige Sexualpraktik denken, dann liegen Sie nicht völlig falsch. Stridulation ist der Fachausdruck fürs Zirpen der männlichen Grillen, also der Grilleriche, und natürlich musizieren die nicht einfach aus lauter Lust an der Freude, sondern weil sie nur eines im Kopf haben: Sex. Das Stridulieren dient dazu, Weibchen zu betören – und andere Männchen zu vertreiben, die einem die Weibchen streitig machen könnten.

Musik machen, um Weiber ins Nest zu kriegen: Man kennt diese Masche von Mick Jagger und Konsorten. Das Männchen spielt (sich) auf, das Weibchen fällt drauf rein – ein Rollenmuster aus der Steinzeit. Zur Ehrenrettung der Grillen sei gesagt, dass sie nicht anders können, besser aussehen als Mick und auf jeden Fall die grössere Rockröhre haben als der Rolling Stone. Bis zu 200 Meter weit hört man den Lockgesang einer Grille; so ein Wiesenmacker könnte also locker das Hallenstadion beschallen – und zwar unplugged.

Blöd nur, dass die liebestollen Tiere ihre Serenaden nicht im Stadion anstimmen, sondern vor meinem offenen Schlafzimmerfenster. Kuschel­rock aus dem Wiesengrund. Wenn man keine Ahnung von Botanik hat, lässt man sich vom monotonen Kri-kri-kri in Gedanken gerne in eine laue italienische Sommernacht versetzen (kleine Fluchten im Lockdown). Aber wenn man mal verstanden hat, was die Grillen da zirpen, wird einem ganz anders, und der unschuldige Schlaf ist nachhaltig versaut.

So ein Grillenkonzert ist nämlich ein einziges akustisches Parship. Wobei Grillen-Singles ohrenscheinlich deutlich länger als elf Minuten brauchen, um sich zu verlieben. Denn ihre immer gleiche Anmache – habt ihr eigentlich nichts anderes drauf als kri-kri-kri mit Loop-Effekt? – ist die ganze Nacht über zu hören, als hätten die Viecher zu viel Ovo getrunken («Mit Ovi chaschs nid besser, aber länger»). Wobei sich gegen Ende ein bisschen Verzweiflung ins unerhörte Werben mischt («I can get no satis­faction»).

Stundenlang geigen die giggerigen Grillen auf ihren Stridularis ihre Kontaktanzeigen für heisse Nächte. Das Niveau ist unterirdisch, auch wenn die Grillen zum Balzen aus ihren Röhren kriechen. «Geile Grille sucht williges Weibchen.» Und im Gegensatz zu Tinder immer gleich mit beidseitigem Kinderwunsch. Wie abartig ist das denn, bitteschön. Wie religiöse Fundis.

Aber was kann man von Grillen auch anderes erwarten? Sind halt in Sekten.

«Home Holidaying»

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 16. April 2020

Ach, wie schön ist Griechenland. Gerade jetzt im Frühling. Sich berauschen am süssen Duft des Hibiskus. Und erst all die Scherben der Antike, Pardon, das Erbe der Antike. Hochkultur zum Niederknien. Wir waren gerade dort, Sonne pur, niemand da ausser uns. Wunderbar. Nur das Essen war katastrophal. Gleich in unserem Hotel gab es eine kleine Taverne, also ein Tavernchen, so klein war die, eigentlich nur eine offene Küche und ein einzelner, langer Holztisch. Eine Speisekarte gab es nicht. «Ich koche für euch, was ich grad habe», sagte der Wirt. Das klang wie das Versprechen eines dionysischen Festmahles. Aber am Schluss schmeckte es, als hätte ich es gekocht.

Was ich ja auch hatte. Denn natürlich sind wir nicht nach Griechenland gefahren und auch nirgendwo sonst hin, sondern brav zu Hause geblieben. Aber nach endlos scheinenden Wochen Home­office und Homeschooling hiess es über Ostern für uns alle «Home Holidaying». Also Stubenarrest wie vorher, aber nichts zu tun. Darum verreisten wir. Im Kopf. Und mithilfe von Wikipedia, dem vergilbten Silva-Bildband «Griechenland» von 1964 und landestypischer Küche. Das war zumindest die Idee. Aber der lokale Volg ist halt kein griechischer Feinkostladen. Und so kochte ich, was ich grad hatte: Gefüllte Weinblätter? Geht sicher auch mit den Risotto-Resten vom Vortag und Kopfsalatblättern, dachte ich. Und wer sagt denn, dass Cervelats nicht auch als frittierte Tintenfischringli taugen? Die Kunst ist die Panade.

Ich konnte mir das Resultat mit zwei, drei Ouzo (alias Kirsch) schöntrinken, aber die Kinder motzten. Also disponierten wir um. Ferien heisst, Kompromisse machen. Der Kleine bestand darauf, endlich einmal seine Lieblingstiere in natura zu sehen. Also gingen wir auf Affensafari, inklusive Beweisfotos (Plüschgorilla im Gummibaum). Danach bekam die Grosse ihre langersehnten Reitferien. Aber als sie nach 50  Runden im gestreckten Galopp durch die Stube meinte, das Kinderplanschbecken würde einen prima Wassergraben fürs Springreiten abgeben, bockte ich und warf sie ab.

Plötzlich war das brave Pferd ein blöder Esel und beinahe wäre die Stimmung gekippt. Aber eine Runde Ge­lati, die meine Frau spendierte, versöhnte uns alle wieder – mit uns und dem Unabänderlichen.

Abends gondelte ich mit meiner Frau auf unserem Sofa durch die Kanäle Venedigs, der Vollmond spiegelte sich im glasklaren Wasser, und das «Nessun dorma», das ich aus voller Kehle schmetterte, erfreute nicht nur meine Frau, sondern auch die Nachbarn, die ihre Begeisterung durch lautes Hämmern gegen die Wand kundtaten. Andere Länder, andere Sitten eben.

Wenn das alles vorüber ist

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 2. April 2020

Jetzt bereue ich es, keinen Hamster gekauft zu haben. Aber als alle anderen ihre Hamsterkäufe erledigten, habe ich nur den Kopf geschüttelt. Ich meine, wozu Hamster? Die Viecher taugen doch gar nicht als Notvorrat. Die muss man erst füttern, bevor man sie futtern kann. Und selbst bei kühler und trockener Lagerung halten die nicht ewig. Aber jetzt hätte ich schon schampar gerne so einen Hamster. Nicht als Sonntagsbraten, nein, um einfach wieder mal jemandem Wildfremden trotz Social Distancing herzhaft und gefahrlos die Pfote drücken zu können. Aber jetzt kriegt man Hamster nur noch schwarz im Internet, und das sind auch bloss aufgeföhnte Hausmäuse. Also Obacht.

Aber es fehlt mir schon, das Händedrücken, das Umarmen, das Küsschen-Küsschen-Küsschen. Ihnen nicht auch? Ich befürchte, wenn das alles mal vorbei ist, werde ich mit einem debilen Dauergrinsen durch die Strassen laufen und wie ein Irrer ausnahmslos alle umarmen, die bei drei nicht auf den Bäumen sind. Und wenn jemand «Me too» schreit, dann drück ich den auch gleich. Ich lasse mich nicht zweimal ­bitten.

Wenn das alles mal vorbei ist, dann gibt es statt drei klinisch reinen Begrüssungsküsschen hemmungslose Knutscherei. Alain Bersets Glatze werde ich küssen, wenn ich seiner habhaft werde. Und auch Daniel Koch vom BAG kriegt von mir einen dicken Schmatzer aufs Haupt.

Meine Eltern werde ich so oft und ausgiebig besuchen, dass sie sich irgendwann tot stellen, wenn ich klingle, weil sie finden, es sei eigentlich ganz gut gewesen, dass ich vor 20 Jahren ausgezogen sei.

Aufrichtig freuen werde ich mich über jeden Rentner an der Migros-Kasse, auch wenn er seine 17.95 mit mühsam hervorgeklaubten Fünfrappenstücken begleicht. Und sollte sich der Senior dann vielleicht sogar mit einem um Entschuldigung heischenden Blick zu mir umdrehen, werde ich sagen: «Was habe ich Sie vermisst.» Und ich werde es ernst meinen.

Ich esse mich eine Woche lang durch die Speisekarte meiner Dorfbeiz. Und wenn ich fertig bin, beginne ich wieder von vorn. Aber dieses Mal immer mit zwei Desserts.

Schamlos suhlen werde ich mich im Ikea-Bällebad und lauthals mitsingen, wenn sie sich im Radio wieder ge­trauen, Helene Fischers «Atemlos durch die Nacht» zu spielen.

Das alles werde ich tun. Oder auch nicht. Vielleicht bin ich auch einfach nur gottenfroh, wenn wir das alle einigermassen heil überstehen. Bleiben Sie gesund. Ich freu mich schon drauf, Sie zu drücken.

«Es gilt: In die Armbeuge lachen!»

«Humor schafft Distanz.» (Bild Aldo Ellena/Freiburger Nachrichten)

Scherze in Corona-Zeiten, geht das? Das wollten die «Freiburger Nachrichten» anlässlich des 1. Aprils von mir wissen. Das Interview gibt es hier zum Nachlesen.

Die Problemzone bin ich

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 20. Februar 2020

Mein Körper hat keine Problemzonen, nein, mein Körper ist eine einzige Problemzone. Ja, was sag ich, eine Krisenregion, ein leibhaftiges Konfliktgebiet. Und an manchen Stellen herrscht schon offener Krieg. Auf meinem Kopf zum Beispiel, wo die Kopfhaut seit Jahren kategorisch einen Platz an der Sonne für sich fordert und nicht davor zurückschreckt, die Kopfhaare mit der Wurzel auszurotten, um diesem schä(n)dlichen Ziel näher zu kommen. Ein Follikelmord, eine genetische Säuberung. Und kein Blauhelm weit und breit.

Regelmässig bitten geflohene Haare in meiner Nase um Asyl, aber ich kann ja nicht alle aufnehmen. Es hängt mir schon zu den Ohren raus. Natürlich geht mir ihr Schicksal nicht am Ar… vorbei. Dort haben ja auch welche von ihnen Zuflucht gefunden. Noch so eine Po-blemzone.

Die Falten in meinem Gesicht? Schützengräben des Abnützungskrieges gegen das Alter, die sich immer tiefer eingraben, je aussichtsloser der Kampf wird. Sie haben vielleicht Krähenfüsschen um die Augen, ich habe Adlerkrallen. Und an meinen Augenringen könnte man das olympische Programm turnen.

Und wenn ich erst an meine Gelenke denke …

Meine Äquatorialregion hegt schon lange heimliche Expansionsgelüste, die ich bisher zwar einigermassen in die Schranken weisen konnte, aber je älter ich werde, desto unverschämter überschreitet sie – von wegen gemässigte Breiten – jede von mir aufgestellte Gewichtsgrenze, um ihren teuflischen Plan zu verwirklichen: den Breitengraden zum Punktesieg über die Längengrade zu verhelfen.

Gegen den unaufhaltsamen Eroberungsdrang hilft keine noch so dringliche Neujahrsresolution. Denn selbst meine Muskeln, die ich als Mitstreiter im Kampf gegen die zunehmende Formlosigkeit meines Körpers wähnte, sind in Tat und Wahrheit etwas ganz anderes: nämlich Gegenspieler. Bizeps und Trizeps – die beiden Antagonisten gönnen sich nichts, ein episches Kräftemessen, ein ewiges Hin und Her, keiner will sich dem anderen beugen. Könnten Bizeps und Trizeps twittern, Trump und Rohani wären kreuzbrave Erstkommunikanten verglichen damit.

Wenn das so weiter geht, habe ich irgendwann keine Strandfigur mehr, sondern eine Strandballfigur. Und es tröstet mich wenig, dass den alten Griechen die Kugel als Idealfigur galt.

Und am Schluss siegt wie immer die Schwerkraft.

Es ist erbärmlich.

Der einzige Hoffnungsschimmer inmitten all dieser Problemzonen? Meine Frau hat meinen Körper noch nicht zur No-go-Area erklärt.