«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 2. August 2024
Ich wohne in einem Kaff. Das sage nicht ich, das sagt mein Göttibub. Er muss es wissen, er hat nämlich eine eigene Skala für die Ermittlung von Kaffigkeit entwickelt. Sein wichtigstes Kriterium: Dönerbuden. Wünnewil mit Null Dönerladen ist für ihn ein schlimmes Kaff. Zu seiner Verteidigung: Er wohnt in der Nähe des Sonnenplatzes in Emmenbrücke, dort gibt es im Umkreis von 100 Metern gefühlt mehr Dönerbuden als in ganz Berlin-Neukölln. So kommt es zumindest mir vor, aber ich bin auch leicht zu beeindrucken, ich komme ja aus einem Kaff.
Vor kurzem machten wir Ferien in einem Ort im Waadtländer Jura, für den mein Göttibub seine Skala ins Negative erweitern müsste: Le Lieu. Ich glaube, das ist französisch für «Kaff». Jedenfalls gibt es dort nicht nur keinen Döner. Sondern auch nur einen einzigen Dorfladen, der zudem dieselbe Idee hatte wie wir: Ferien. Betriebsferien hatte auch die einzige Beiz. Da standen wir mit unseren Koffern im ausgestorbenen Dorf und überlegten uns einen Moment lang, ob wir nicht einfach wieder in den nächsten Zug steigen sollten – der nur einmal in der Stunde fährt.
Wir blieben dann doch. Zum Glück. Denn der Lac de Joux hatte keine Betriebsferien. Gleich am ersten Abend versöhnte er uns mit unserer Feriendestination. So klar und angenehm frisch. Und wie das kitzelte, wenn einem die neugierigen kleinen Fischchen beknabberten, wenn man nur lange genug ruhig sitzen blieb (zum Ausgleich knabberten wir ihre ausgewachsenen und filetierten Verwandten später im Restaurant drei Zughaltestellen weiter).
In den nächsten Tagen merkten wir, dass die Menschen im Vallée de Joux die Strukturschwäche mit Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft kontern und dass sich Kaff auf Naturschönheit reimt. Diese Aussicht vom Dent de Vaulion. Die Gämsen, die sich auf einer vernieselten Wanderung von Le Lieu nach Le Pont durch uns in keiner Weise stören liessen und fast in Streicheldistanz friedlich ästen. Dieses Gefühl von Schwerelosigkeit, wenn wir auf dem Stand-up über den See glitten – und kein Mensch weit und breit.
Am letzten Abend spazierten wir nach Einbruch der Dunkelheit vom abendlichen Bad im See nach Hause. Es raschelte im Laub, wir zückten unsere Handylampen und entdeckten auf Schritt und Tritt Frösche und Kröten, und versteckt zwischen den Steinen am Ufer Flusskrebse. Und während am Himmel die ersten Sterne aufgingen, zündeten im Gebüsch die ersten Glühwürmchen ihren Leuchtpopo an.
Spätestens da wurde uns klar, dass wir Le Lieu falsch übersetzt hatte. Das hiess nicht «Kaff», sondern «The place to be» – zumindest einige schöne Sommertage lang.