Glötzi

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 28. Januar 2020

Natürlich hätte ich meine Kinder anlügen können, als sie neulich in unserem Gefrierschrank eine Gletschermumie entdeckten. «Das ist keine Gletschermumie», hätte ich sie zum Beispiel beruhigen können, «das ist Tante Friedas legendärer Hackbraten.» Aber solche Sätze kommen mir natürlich immer erst hinterher in den Sinn, und ausserdem lag da kein Hackbraten, sondern eine Gletschermumie, erstaunlich klein zwar, aber gut erhalten und mit der typischen bräunlichen Färbung. Begraben unter den nicht geschleckten Raketen des letzten Sommers, starrte sie mich aus dunklen Knopfaugen an, die mir unheimlich vertraut vorkamen. An der rechten Hand der Mumie klebte das letzte Vanille-Cornet, auf das es meine Grosse eigentlich abgesehen hatte.

«Ich frag mich nur, wie die in unseren Gefrierschrank kommt», sage ich. «Wahrscheinlich während der letzten Eiszeit», meinte die Grosse. «Kann nicht sein», entgegne ich, «ich habe die Truhe seither mindestens einmal abgetaut und geputzt.» – «Das war der Kühlschrank», wirft der Kleine besserwisserisch ein. «Stimmt», sage ich, «aber länger als ein paar Monate kann die trotzdem noch nicht hier liegen, sonst hätten wir sie doch schon früher entdeckt.»

Der Gefrierschrank meldet mit hektischem Piepen, dass die Türe schon zu lange offensteht.

«Hatten wir nicht kürzlich den Fernsehtechniker im Haus?», kommt es mir in den Sinn. «Der war doch im Keller unten. Ich habe den gar nicht rausgehen sehen.» – «Und was soll der im Gefrierschrank gesucht haben?», fragt die Grosse skeptisch. «Vielleicht SRF Eis», versuche ich es. «Dann sollten wir ihn Glötzi nennen», schlägt der Kleine vor. Diese Runde der billigen Wortspiele geht an ihn.

Der Schrank piept jetzt noch dringlicher. «Was piept denn hier so?», fragt meine Frau und kommt in den Vorratskeller. «Macht endlich den Gefrierschrank zu, sonst schmilzt noch alles», sagt sie. «Und den Teddy könnt ihr auch gleich rausnehmen.» – «Den Teddy?», frage ich. «Den Teddy», sagt meine Frau, packt die Gletschermumie und bürstet ihr das Eis vom Fell. «Der hat doch Kaugummi in den Pelz gekriegt. Über Nacht in die Kälte, dann wird der Kaugummi bröckelig und man kann ihn ohne Probleme entfernen», sagt sie und klaubt die rosa Kaugummireste aus dem Bärenfell.

«Mein Teddy», freut sich der Kleine und drückt das Plüschvieh so fest, dass dem ganz warm wird um sein kaltes Stopfwatteherz. «Mein Eis», freut sich die Grosse und nimmt das Vanille-Cornet aus dem Schrank. Ich sage nichts.

Wo der Fernsehtechniker abgeblieben ist, bleibt mir aber bis heute ein Rätsel. Vielleicht werden wir ja beim nächsten Frühjahrsputz fündig.

Darf ich bitten?

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 17. Januar 2020

Tanzen müsste man können. Wenn einen die Dentalhygienikerin das nächste Mal mit ihren Marterwerkzeugen quält und dann scheinheilig fragt, ob es wehtue, nicht einfach «Esch geht» nuscheln, sondern eine feurige sizilianische Tarantella auf den Behandlungsstuhl zappeln, dass der guten Frau für den Rest des Lebens die Lust und der Mumm vergehen, fremden Leuten im Maul herumzustochern.

Tanzen müsste man können. Wenn beim nächsten Elternabend zum x-ten Mal der Lehrplan 21 erklärt wird, die ganze Chose von hinten her mit einer Polonaise aufmischen. Und der Schulleiter schlägt dazu das Tamburin. Der Mann hat Rhythmuskompetenz, Baby.

Tanzen müsste man können. Wenn einem im Ausgang wieder einer dieser proteingeschwängerten Mucki-Primaten blöd kommt, dem Typen mal zeigen, wer hier die fettesten Moves auf Lager hat. Yo, Digger, tanzen müsste man können.

Tanzen müsste man können. Wenn die Liebste nach einem mühsamen Tag abgekämpft nach Hause kommt, sie einfach um die Taille fassen, tief in die Augen schauen und dann durch die Stube slowfoxen und nicht aufhören, bis alles, alles wieder gut ist.

Tanzen müsste man können. Beim Pendeln im Zug, wenn alle hypnotisiert in ihre Smartphones starren wie Kaninchen in die Augen der Python, sich die überraschte Billettkontrolleurin schnappen und mit ihr einmal quer durch die zweite Klasse der S1 walzern – und viral gehen damit.

Tanzen müsste man können. In die Vorstandssitzung einer beliebigen börsenkotierten Unternehmung reinplatzen, «Damenwahl» rufen und dann all die selbstverliebten Herren sitzen lassen, während die Sekretärin, die einzige Frau im Raum, mit einem eine kesse Sohle auf den Konferenztisch hinlegt.

Tanzen müsste man können. Trump zum Diplomatentango bitten und ihm dann absichtlich, obwohl man es besser könnte, auf die Füsse treten, immer und immer wieder, bis er sich humpelnd von der Weltbühne verabschiedet.

Tanzen müsste man können. Wenn der Tod einmal an die Türe klopft, ihn ungefragt an die Brust nehmen und einen innigen Rumba schwofen, bis seine Knochen klappern – und dann mal schauen, wer hier wen führt.

Tanzen müsste man können. Zum Beispiel jetzt gerade, mit Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, ein kurzes Tänzchen wagen, bevor Sie weiterblättern. Wie wär’s? Es darf auch der Ententanz sein. Nur keine Hemmungen. Tanzen muss man nicht können, man muss es nur wollen.

Darf ich bitten?

Save the date

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 27. November 2019

Haben Sie am 12.  Dezember 2020 schon was vor? Nicht? Save the date. Reservieren Sie das Datum, am besten jetzt gleich, denn Sie wissen ja, Daten sind Fluchttiere, fixiert man sie nicht rechtzeitig mit der Zwangsjacke des Terminkalenders, entschwinden Sie schneller als die gute Laune von Beat Vonlanthen am Wahlsonntag. Darum: Save the date.

Sterneköche zelebrieren auf dem offenen Feuer einen kulinarischen Höhepunkt nach dem anderen, dass Ihnen nachher jeder Sex fad vorkommt. Und natürlich Willkommenscüpli, Freibier, Kafistübli. Raiffeisen-GV meets Cirque du Soleil, als hätten die Bad-Bonn-Kilbi und das Zürcher Opernhaus ein Kind gezeugt, so was in der Art. Nicht bloss ein Fest, kein Event – ein unvergessliches Erlebnis. Ganz viel Glitzer, Glamour, jeder Moment instagrammable ­(#experienceofalifetime) – und Sie mitten drin, OMG! Noch auf dem Sterbebett würden Sie bereuen, nicht dabei gewesen zu sein. Haben Sies im Kalender vermerkt? Noch nicht? ­Save the date, bitte, bitte.

Und jetzt stellen Sie sich vor, es ist der 11. Dezember 2020, der Freitag vor dem Fest. Ihre Gala-Garderobe haben Sie schon herausgelegt, da bekommen Sie per Post eine Absage: «Der Anlass vom 12. Dezember 2020 ist gecancelt.» Ohne Angabe von Gründen! Natürlich sind Sie fuchsteufelswild. Ich hatte Ihnen ja bengalische Tiger versprochen und feurigen Sex mit Peter Reber (Letzteres haben Sie zwar falsch verstanden, aber die verpasste Chance fuchst Sie trotzdem).

Doch dann würde Ihnen langsam dämmern, dass Sie gerade ein unglaubliches Weihnachtsgeschenk bekommen haben: einen unverplanten Samstag mitten im Advent, den Sie ganz nach Ihrem Gusto verleben können. Sie könnten den ganzen Tag im Bett bleiben, allein oder mit andern. Oder so masslos guetslen, dass Ihr Ofen noch Tage später nachglüht. Besuchen Sie Ihre Eltern im Altersheim, das freut sie mehr als das immer gleiche Kölnischwasser; erledigen Sie alles, was zu erledigen ist; rühren Sie keinen Finger. Oder stellen Sie sich mit einem Topf Glühwein an die Strasse und verplaudern und versaufen Sie den Tag mit Ihren Nachbarn, die die Langeweile aus dem Haus getrieben hat. Denn, das ist ja der Clou, alle anderen hätten sich den 12. Dezember auch freigehalten.

Tönt verlockend? Save the date.

Running Gag

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 18. November 2019

Als Jogger bin ich eine Witzfigur, ein Running Gag, eine Schnecke in Lycra-Leggins. Überhaupt habe ich nur mit dem Laufen begonnen, weil im Internet stand, über 45 solle man zuerst zum Arzt, bevor man mit dem Joggen anfange, und da dachte ich mir: Fang lieber vorher an. Denn zum Arzt ist nie gut; immer teuer, weil der ja sein ganzes Hightech-Equipment amortisieren muss – Rolex, Jacht und Golfschläger. Und am Schluss sagt er Sätze wie: «Sie haben noch 40 Jahre zu leben. Mindestens. Aber es wird kein schönes Alter werden.»

Nun stehe ich barfuss im Sportgeschäft auf einer Glasplatte und schaue auf dem Bildschirm vor mir meine Füsse von unten an. Ein gruseliges Gefühl, und es hilft nicht, dass die gelangweilte Verkäuferin mir Knickfüsse diagnostiziert und beiläufig anfügt, die hippen Laufschuhe, die ich mir im Internet gekauft habe, seien für Wettkämpfer, im Fall. Leute wie ich bräuchten eher etwas mit mehr Stütze. Meine Füsse knicken gleich noch etwas mehr ein und mit ihnen mein Selbstwertgefühl.

Ob ich eigentlich auch Krafttraining mache, fragt die Verkäuferin, meine Fussmuskulatur lasse nämlich zu wünschen übrig. «Ich finde Rennen schon anstrengend genug», versuche ich es mit einem Witz, worauf sie mir mit missbilligendem Blick einen Prospekt reicht, in dem Menschen Dinge mit farbigen Gummibändern anstellen, für die man im Zirkus Eintritt verlangen könnte. Das seien Powerbänder, ob ich vielleicht Interesse hätte, fragt sie, und ich weiss, wenn ich einen letzten Rest von Würde aufrechterhalten will, dann muss ich viel Geld liegen lassen. Ich nicke ergeben.

Zum Anprobieren der Schuhe borgt sie mir ein paar Rennsocken. «Rennsocken haben Sie, oder?» Ihr Blick geht zu meinen roten Baumwollringelsocken. Verschämt schüttle ich den Kopf. «Aber Sie wissen schon, wofür die gut sind», lässt sie nicht locker. «Ist ja gut», sage ich, «ich nehme sechs Paar, für jeden Trainingstag eines.» Aber schon lauert die nächste Stolperfalle. «Die Schmetterlingsschnürung kennen Sie bestimmt, oder?»

Ich murmle etwas Undeutliches und komme mir vor wie ein Erstklässler, der noch immer Schuhe mit Klettverschluss trägt, weil er nicht weiss, wie man sich die Schuhe bindet.

An der Kasse fragt sie dann noch, ob ich auf einen bestimmten Wettkampf hin trainiere. «Der Erfinder des Marathons ist gleich bei der ersten Austragung ums Leben gekommen. Das Konzept ist also echt nicht ausgereift», sage ich nur. Und dann bin ich so schnell aus dem Laden raus, also, wenn ich dieses Tempo halte, dann müssen sich die Kenianer beim nächsten Murtenlauf aber ganz warm anziehen.

Total vermöbelt

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 13. November 2019

Mein Schrank ist echt beschränkt. Neulich vermöbelte er mein Bett, nur weil es gesagt hatte, er habe nichts auf dem Kasten. Der Schrank natürlich gleich bis auf den Pressspan beleidigt. «Möbel, hau’s», schrie er, «sonst breche ich dir jedes einzelne Lättli. Und dann ist fertig Happy Bett.» Das Bett dachte gar nicht dran abzuhauen, ist ja kein Reisebett. Der Schrank, total furniert, mit Karacho aufs Bett. «Unter den Tablaren der Staub von tausend Jahren», begann in diesem Moment der Perserteppich zu skandieren, ein Alt-68er, der weiss, wie es ist, mit Füssen getreten zu werden, und sich darum mit allen Unterdrückten solidarisiert.

«Halt du bloss deine Quasten, sonst klopf ich dich ordentlich durch, du Staubmilbenbordell», mischte sich jetzt der Nachttisch ein, der eigentlich ein ganz Süsser wäre, hätte er ein t weniger. «Deine Sprache ist unterste Schublade», monierte der Sessel aus dem Brockenhaus, der sich einbildet, er sei Brockhaus. «Wieso muss eigentlich immer ich herhalten, wenn ihr schmutziges Zeugs daherredet?», fragte die unterste Schublade der Kommode eingeschnappt. «Weil es so kommod ist», zischte der Luftbefeuchter, sonst nicht gerade bekannt für trockenen Humor.

«Ich ertrag das nicht länger, ich ertrag das nicht länger», jammerte das Ikea-Büchergestell und fing an zu zittern wie Espenlaub, aus dem es ja auch gemacht ist. «Legal, illegal, Scheissregal», pöbelte jetzt auch noch lautstark der anthrazitfarbene Plexiglas-Hi-Fi-Turm, den alle nur den Schwarzen Block nennen. Daraufhin machte vor Angst der Stuhl in den Gang. «Flurschaden», witzelte die Deckenlampe, die sich mit ihren 40 Watt für besonders hell hält.

Inzwischen hatten auch die Outdoor-Möbel mitbekommen, was bei der Inneneinrichtung abging, und natürlich – rattan-rattan! – gleich voll drauf. «Stubenhocker, Stubenhocker», schmähten die Liegestühle das Taburettli, das sich fast zu Tode schemelte. «Hört bloss auf, ihr billigen Eintagsliegen», eilte der Vorhang zur Verteidigung, der für einmal nicht bloss rumhing, sondern klare Goldkante zeigte.

Ein Tumult im ganzen Haus. Die Zierkissen zierten sich nicht und pufften sich, dass die Federn flogen. Sogar das Piano wurde laut. Nicht einmal die Fenster blickten mehr durch, um was es überhaupt ging. In diesem Moment kam meine Frau ins Zimmer. «Jetzt ist aber genug», sagte sie. «Du kannst doch nicht für eine deiner Kolumnen unseren ganzen Hausrat gegeneinander aufhetzen.»

«Liebes Mobiliar», sagte ich, «meine Frau hat recht. Ausserdem fallen mir keine Wortspiele mehr ein. Also Schluss jetzt.»

Essjuhwiehs

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 11. Oktober 2019

Ich will mich ja nicht aufregen. Aber Essjuhwies? Also, SUVs, oder «Suffs», wie Deutschschweizer manchmal ganz treffend sagen. Denn die saufen ja wirklich viel, also die Suffs, nicht die Deutschschweizer. Und darum verstehe ich einfach nicht, wieso entgegen jeder klimapolitischen Dringlichkeit immer mehr Schweizerinnen und Schweizer einen solchen Streitwagen fahren. Es gibt nur einen vernünftigen Grund für einen Suff: eine abgeschlossene Lehre als Förster. Aber so viele Försterinnen kann es gar nicht geben, wie Suffs zugelassen sind. Wer ums Verrecken beim Vorwärtskommen mehrere Tonnen unterm Hintern haben will, dem spendiere ich eine Runde Elefantenreiten im Kinderzoo.

Ich will mich ja nicht aufregen. Aber wieso geben wir überhaupt noch Millionen von Franken für den Bau und Unterhalt von Strassen aus, wenn sowieso alle Offroader fahren? Dann sollen die eben durchs Gelände pflügen. Fussgänger fräst man damit ja auch um, ohne etwas zu spüren. Da gehören doch ein paar Schlaglöcher zum Fahrspass einfach dazu.

Wieso überhaupt noch ein Haus kaufen, wenn die Autos so gross sind, dass die durchschnittliche Scheidungsfamilie bequem darin leben könnte? Samt Hund und neuer Geliebter? Man hat ja zwei davon. Also Suffs. Bei zwei Geliebten wird es dann schon ein wenig eng, vor allem wenn sie eigene Hunde mitbringen.

Gut, ich merke, dieses Argument überzeugt Sie nicht. Aber haben Sie gewusst, dass ein Suff-Parkfeld gleich gross ist wie eine Einzelzelle in einem Schweizer Gefängnis? Nämlich rund zwölf Quadratmeter? Jeder kriegt eben, was er verdient.

Und kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit dem Argument, so ein Suff sei halt praktisch für den Wocheneinkauf. Die durchschnittliche Aldi-Filiale gibt gar nicht so viel her, wie in den Kofferraum passt. Die Schweizer Privathaushalte verfügen heute über mehr gepanzerte Fahrzeuge als die beste Armee der Welt. Was, um Himmels Willen, haben wir damit vor? In Konstanz einmarschieren? «Seit 5 Uhr 45 wird die Mehrwertsteuer zurückgefordert?»

Ich will mich ja nicht aufregen. Aber wieso korreliert viel Geld nie mit gutem Geschmack? Suffs sind hässlich, Ochsen­frösche auf Anabolika. Ich glaube ja, dass die Suff-Designer aller Autobauer intern eine Wette am Laufen haben, wie hässlich sie ihre Offroader gestalten können, dass die Leute immer noch bereit sind, mehr als den Jahreslohn einer Migrosverkäuferin dafür hinzublättern.

Ich will mich ja nicht aufregen. Aber was man mit diesem Geld alles anstellen könnte? Ein GA und jeden Tag Champagner saufen in der 1. Klasse! Ich meine, wenn ich wählen könnte, wäre für mich ganz klar: lieber besoffen im Zug, als nüchtern im Suff. Gute Fahrt.

Kleine Thekenkunde

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 30. September 2019

Die Bibliothek kennt jeder, wenn auch nicht von innen. Aber wie sieht es mit ihrer Verwandtschaft aus? Häufig verwechselt wird die Bibliothek mit ihrer frommen Tante, der Bibelthek, dabei sind die beiden leicht zu unter­scheiden. In der Bibelthek steht nämlich in der Regel nur ein einziges Buch – oder aber ­ein dyslexischer Primar­schüler, und es ist doch eine Bibliothek.

Eng verwandt mit den Bi­blio­theken sind die Fleisch­theken. Bei beiden ist die Auslage ähnlich blutig, wobei sich in der Thriller-Abteilung der Bibliotheken in der Regel Körperteile nicht tierischen Ursprungs stapeln. Das Gute an den Bibliotheken: Im Gegensatz zu den Fleischtheken kann man die dicken Schinken hier wieder zurückbringen, wenn man sie verschlungen hat. Tut man es nicht, muss man eine Hypothek aufnehmen, um die ­horrenden Mahngebühren zu tilgen.

Ein Vetter der Bibliothek ist der Schulthek, der aber trotz eines grossen Ranzens in der Regel weitaus weniger Bücher enthält als eine Bibliothek. Unter ihren Geschwistern ist die Bibliothek die introvertierteste: nicht so verspielt wie die Ludothek, nicht grosses Kino wie die Cinemathek, und sie geht auch nicht so ab wie ihre partygeile Schwester, die Discothek. Was mit ein Grund dafür ist, dass die Bibliothek eher von älteren Semestern frequentiert wird, die neben den mittagsschlafkompatiblen Nachmittagsöffnungszeiten auch das Angebot an Grossdruck-Büchern schätzen. Das Kleingedruckte hingegen ist die Spezialität der Apotheke. Wobei Beipackzettel lesen häufig mehr Alpträume verursacht als die blutigsten Thriller aus der Bibliothek.

Irgendwann in der vorletzten Eiszeit ausgestorben ist die Videothek, eine Coucousine der Bibliothek mit eher zweifelhaftem Ruf. Auch von der Bildfläche verschwunden ist der südamerikanische Onkel, der Azteke, dem die Spanier nicht nur Land und Gold raubten, sondern auch das h nach dem t. Im Gegensatz zur Videothek gehörte der Azteke jedoch, genau wie die Bibliothek, zur Hochkultur.

Bis heute umstritten ist übrigens die Frage, wie viele Bücher es braucht, damit überhaupt von einer Bibliothek gesprochen werden kann. Die Franzosen ziehen sich wie immer ganz elegant aus der Affäre. Bei ihnen ist jedes Bücherregal eine bibliothèque. Ganz egal, ob ein Buch drinsteht oder nicht.

Und nein, eine Stiftsbibliothek wird nicht vom Lehrling geführt.

Endlich Herbst

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 17. September 2019

Das Schönste am Herbst ist, dass der Sommer vorbei ist. Endlich. Dieser nervtötende Angeber, dieser flip-floppende Grosskotz, der es wie die Sonnenuhr macht: Er hält sogar seinen Schatten für das Mass aller Dinge. Der längste Tag, die kürzeste Nacht (aber tropisch!), Rekordtemperaturen – drunter macht es der Sommer nicht. Er ist eben der Trump unter den Jahreszeiten: Völlig verpeilt in seiner Selbstüberschätzung, spaltet er die Nation in jene, die ihn heiss lieben, und jene, die ihn am liebsten loswerden würden (#ImpeachSummer).

Den Herbst hingegen lob ich mir. Er ist wie die CVP: Wankelmütig (fröstelkalt am Morgen, am Nachmittag reichts noch fast einmal für die Badi), auf Ausgleich bedacht (Tagundnachtgleiche) und tendenziell auf dem absteigenden Ast. Im Gegensatz zum Sommer muss sich der Herbst nicht in Pose werfen, er ist kein Lautsprecher, kein Blender, kein greller Typ, nein, der Herbst hat die ganz grosse Farbstiftkiste von Caran d’Ache in die welken Hände gelegt bekommen. Keiner kann mehr Zwischentöne und Nuancen als er.

Und um einiges leiser als der Sommer ist er auch. Für das Dröhnen der Laubbläser kann er ja nichts. Ihren raschelnden Striptease vollführen die Bäume nicht für uns, sondern nur für sich selbst; deshalb erröten sie ja auch, wenn man ihnen beim Entblättern zuschaut. Bald schon stellt man die Heizung wieder an, mit schlechtem Gewissen, weil man immer noch mit Öl heizt (der nächste Sommer wird noch heisser werden). Und man schaut den Schwalben bei ihrer Flugakrobatik zu (#flugcharme) und fühlt sich selber leicht und beschwingt dabei, Sauser sei Dank.

Ja, die Natur fährt noch einmal das ganz grosse Buffet auf, aber aus der Überfülle tötelet uns die allgemeine und eigene Vergänglichkeit entgegen. Deshalb auch die Bénichon, diese kollektive Völlerei wieder jede Vernunft und Ernährungsempfehlung: sich noch einmal den Bauch vollschlagen, wer weiss, ob man nächstes Jahr noch mit am Tisch sitzt.

Alles vergeht, daran erinnert uns der Herbst. Und den Ga­raus gemacht hat er zum Glück auch den Sommerferien der Kinder, diesen siebeneinhalb Wochen, die zäh dahinflossen wie Asphalt in der glühenden Sommerhitze. Siebeneinhalb unendlich lange Wochen, bei denen am Schluss die Nerven mancher Eltern und Kinder so blank lagen wie die Flanken der einst vergletscherten Berge.

Nun sind die Kinder wieder aus dem Haus und reifen ihrer schulischen Vollendung entgegen. Dem Herbst sei Dank. Dafür verzeih ich ihm alles andere: den Nieselregen, die Nebeltage und den unvermeidlichen Wurm in den heissen Marroni.

Stilfragen

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 29. Juni 2019

Gerade in diesen Backofentagen werde ich als Stilexperte häufig gefragt: «Nackte! Männerfüsse! in! Sandalen! Geht das!» Ohne Fragezeichen, aber mit fünf Ausrufezeichen, weil es eigentlich gar keine Frage ist, sondern ein bereits gefälltes ästhetisches Todesurteil, das ich lediglich noch unterzeichnen soll.

Doch den Gefallen tu ich nicht. Ich finde nämlich, nackte Männerfüsse in Sandalen, das geht durchaus. Ich habs ausprobiert. Und Jesus lief schliesslich auch nicht mit rahmengenähten Budapestern herum. Wer will also den ersten Bimsstein werfen?

Überhaupt finde ich, was bei Frauen ok ist, soll auch für Männer in Ordnung sein. So viel Gleichberechtigung muss sein. «Aber Socken in Sandalen?», werden Sie jetzt vielleicht fragen. Bitte, wers mag. Was übrigens auch geht: bleiche und haarige Krampfaderbeine, die unter zu kurzen Sommerröcken oder Shorts hervorschauen, wabblige Tantenarme und mehr oder weniger imposante Bauchansätze mit leichtem Sonnenbrand – und Falten an allen möglichen und unmöglichen Stellen, das geht sowieso.

Denn hey, Leute, es ist Sommer. Grillzeit. Also raus mit dem Fleisch, auch wenn es kein Edelstück ist oder eher ein Käseplätzli statt ein Hohrückensteak. Das Leben ist nun mal kein Instagram-Profil mit eingebautem Filter. Hier gibt es eben noch echte Menschen mit echten Körpern, und der öffentliche Raum ist kein Laufsteg, den man nur mit Modelmassen betreten darf.

Aber wenn Sie schon um meine Stilkritik fragen, bitte. Was meiner Ansicht nach in dieser Saison gar nicht geht: Dass eine Freiburger Partei nur mit Männermodels wirbt – das ist nicht retro-chic, das ist einfach untragbar. Stillos ist, wie ihre Mutterpartei in ihrem extraplatten Extrablatt die Klimapolitik mit fadenscheinigen Argumenten und gegen den Strich jeder Logik zu einer Ausländerfrage zurechtschnurpfen will. Schlechte Handwerk ist es sowieso: Das Wahlkampfmäntelchen ist so durchsichtig gestrickt, dass man durch es hindurch die Angst seiner Macher sehen kann, dass ihnen diese Masche diesen Herbst keiner abkauft.

Ganz generell finde ich: Zwar lassen sich Ignoranz und Hass gut kombinieren, aber sie machen hässlich. Und Bretter vor dem Kopf sehen nie gut aus, auch wenn man dieses Accessoire mit Stolz spazieren führt.

Aber nackte Männerfüsse in Sandalen, das geht. Wer den Anblick schwieliger Männerfüsse in klobigen Sandalen trotzdem als persönliche Zumutung ansieht, der soll halt, Herrgott noch mal, seinen Mitmenschen nicht auf die Füsse schauen, sondern in die Augen.

Dort hat es zwar auch Hornhaut. Dafür wirklich nur in Ausnahmefällen Hühneraugen.

Raumschiff Erde

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 25. Juni 2019

Der Mond fasziniert mich. Die Mondlandung sowieso. Das 50-Jahr-Jubiläum von Neil Armstrongs kleinem Schritt ist für einen Süchtigen wie mich wie 24 Stunden Happy Hour. Sprich, ich gebe mir die Kante: Ich schau mir jeden Dok-Film an, den die unendlichen Weiten des Fernsehens hergeben, liebäugele damit, auch noch den dritten und vierten Bildband zum Apollo-Programm zu kaufen, und zwischendurch gehe ich mit meinem Telesköpchen auf dem Mond spazieren. Und mein Konsum von Raketen-Glaces (die wurde im mondverrückten Sommer 1969 gestartet) ist so astronomisch hoch, dass meine Frau meint, auf dem Mond wiege man zwar vielleicht nur einen Sechstel seiner irdischen Leibesfülle, aber es sei jetzt trotzdem genug.

Aber ich kann nicht anders. Die Vorstellung, dass 1969 drei Männer mit einer Bombe unter dem Füdli und einer Schweizer Uhr am Handgelenk zum Mond gelangten und sicher wieder zurück, auf einer mit Stift und Papier berechneten Flugbahn, ist und bleibt für mich einer der ganz grossen Momente der Menschheitsgeschichte.

Das Mondfieber ist wieder da. Amis, Chinesen, Russen, alle wollen wieder auf den Mond – und dieses Mal wollen sie bleiben. Lunare Iglus und Mond-Salat, der auf Astronauten-Dung heranwächst, sollen die Besiedlung des unwirtlichen Erdtrabanten ermöglichen. Viele sehen den Mond dabei nur als Sprungbrett auf dem Weg zum Mars. Die Kolonisation ferner Himmelskörper werde nötig, wenn die Erde dereinst nicht mehr genug Nahrungsmittel für die Menschheit hergebe, hörte ich neulich eine junge Schweizer Ingenieurin in einem Dok-Film sagen.

Der Mars als Plan B, wenn es auf der Erde schiefläuft? Das finde ich ziemlichen Quatsch. Denn wer könnte sich ein Ticket fürs Rettungsraumschiff leisten? Reiche Männer: Jeff Bezos von Amazon, Marc Zuckerberg von Facebook, in der Holzklasse vielleicht noch Christoph Blocher. Selbst wenn die das auf dem Mars mit der Fortpflanzung hinbekämen, wäre das kein guter Neuanfang für die Menschheit.

Im gleichen Dok-Film sagte ein Raumfahrtexperte: Anstatt von Raumschiffen zu träumen, die uns von der Erde wegbringen, müssten wir uns bewusst werden, dass wir längst in einem Raumschiff sitzen. Wir sind acht Milliarden Astronauten, mit 107 000  Kilometern pro Stunde rasen wir durchs nachtschwarze All und drehen uns um die Sonne, bis diese sich in fünf Millionen Jahren zum Roten Riesen aufbläht und grillt, was von uns übrig geblieben ist.

Den Kurs können wir nicht ändern. Aber wir sollten uns verdammt nochmal endlich um die lebenserhaltenden Systeme an Bord kümmern. Da leuchten nämlich längst alle Alarmlämpchen fiebrig rot.