Pädagogisch wertvolles Leimschnüffeln

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 13. November 2014

Ich wurde in der ersten Klasse angefixt. Von «Fröili» Amrein, meiner Primarlehrerin. Und ich bin bis heute nicht ganz davon losgekommen. Von den Bastelbögen nämlich. Es war ein festes Ritual: Jeden Herbst legte unsere Lehrerin in einer Stunde auf den Pulten die lang ersehnte Ware aus. Wir prüften das Angebot, fachsimpelten und durften am Schluss unsere Bestellung aufgeben.

Unzählige Stunden verbrachte ich mit Ausschneiden, Falten und Kleben. Dass die bunten Kartonbögen pädagogische Wunderwaffen waren, ging mir erst später auf. Nicht nur sollten die Bögen bei den jungen Bastlern Ausdauer, Genauigkeit und handwerkliches Geschick schulen. Jede Bastelarbeit war auch eine anschauliche Lektion in Heimatkunde. Beim Basteln lernte ich spielerisch die regionalen Unterschiede der Schweizer Bauernhausarchitektur kennen, werkelte mich durch die Schweizer Burgenlandschaft und mühte mich mit den Marksteinen der Schweizer Mobilitätsgeschichte ab: Die Blériot von Bider kriegte ich noch halbwegs hin, aber an den filigranen Speichen der Gotthardkutsche oder den fiesen Rundungen der Spanisch-Brötli-Bahn scheiterte ich.

Meinen beschränkten bastlerischen Fähigkeiten zum Trotz hatte ich am Ende meiner Primarschulzeit einen halben Ballenberg und mein privates Verkehrshaus auf dem Bücherregal stehen. Denn die Bögen machten Spass. Wobei ich vermute, dass das Glücksgefühl, das sich beim Basteln zuverlässig einstellte, zumindest zum Teil den Dämpfen aus der Cementit-Tube geschuldet war.

Die Bastelbögen des pädagogischen Verlages des Lehrerinnen- und Lehrervereins Zürich gibt es seit fast 100 Jahren. Manche Sujets sind seit Jahrzehnten im Angebot und noch heute werden jährlich Hunderttausende Bögen verkauft. Ganze Generationen sind damit gross geworden. Die halbe Schweiz lässt sich zusammenkleben. Die halbe Schweiz hat sie zusammengeklebt. Da ist es nicht verwegen zu behaupten, dass die Bastelbögen der heimliche Klebstoff der Nation sind. Sollten eine vegane Wolfsfeministin aus Zürich mit einem SVP-Schafzüchter aus dem Oberland im Lift stecken bleiben, sie fänden wohl wenig Gemeinsamkeiten. Aber ich bin sicher, dass sie beide in ihrer Schulzeit die Kyburg zusammengebastelt haben.

Aus Nostalgie und als Beitrag zum nationalen Zusammenhalt habe ich mir deshalb im Internet einen Bastelbogen bestellt. Die Spanisch-Brötli-Bahn, vor der ich als Kind kapituliert habe. Eine extragrosse Tube Leim liegt schon bereit. Für ein paar glückliche Bastelstunden –, selbst wenn ich die Zylinder nicht perfekt hinkriege.

Bezugsquelle: www.paedag.ch

Wetten, dass Sie nicht gewinnen?

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 30. Oktober 2014

Ich habe im Lotto gewonnen. Nämlich die Einsicht, dass das Glück ein mieser Verräter ist. Und die Wahrscheinlichkeit ein eiskalter Killer von Träumen und Hoffnungen. Deshalb mein Gratis-Tipp für Sie: Lassen Sie es bleiben.

Natürlich ist es verlockend, auf den Jackpot zu hoffen. 5,5 Millionen Franken lagen gestern drin. Da kann es einen schon in den Fingern jucken. Aber ich gehe mit Ihnen jede Wette ein, dass Sie nichts gewinnen werden. Die Chance, mit einem Feld sechs Richtige und die Glückszahl anzukreuzen, liegt bei 1:31 Millionen. Wenn Ihnen das zu abstrakt vorkommt: Viel eher werden Sie Freiburger Staatsrat als Lottomillionär. Selbst wenn Sie nicht in der CVP sind. Ja, es ist sogar sehr viel wahrscheinlicher, dass Gottéron noch den Meistertitel holt, als dass Sie das grosse Los ziehen. Mit anderen Worten: Vergessen Sie’s.

Sie können das Geld für den Lottoeinsatz genauso gut aus dem Fenster werfen. Oder gehen Sie einen Kaffee trinken, kaufen Sie Ihren Kindern eine Glace oder laden Sie Ihren Schatz ins Kino ein. Das Glück wird sich mit höherer Wahrscheinlichkeit einstellen als beim Lottospielen. Und länger halten. Denn so ein Millionengewinn ist ja vor allem eines – eine Last. Wie soll ich das Geld anlegen? Was darf ich mir damit leisten, ohne dass mein Reichtum allen auffällt? Und die vielen herzzerreissenden Bettelbriefe jeden Tag. Nichts als Kummer und Sorgen.

Darum mein gut gemeinter Rat: Finger weg. Seien Sie vernünftig. Rational. Glück erspielt man sich nicht, man muss es sich hart erarbeiten.

Wenn Sie sich trotzdem unbedingt ins Unglück stürzen wollen, dann unterstehen Sie sich wenigstens, meine Zahlen zu tippen: 1, 18, 22, 26, 31, 36 und die Glückszahl 2. Die gehören mir ganz allein. Denn wenn Gewinnen schon so schwierig ist, will ich mein Glück wenigstens nicht teilen müssen. Dafür dürfen Sie den Staatsratsposten haben. Oder neuer Gottéron-Trainer werden.

Viel Glück.

Fröhliche Weihnachten

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 16. Oktober 2014

Selbst auf Halloween ist kein Verlass mehr. Als der Grusel-Import in den 90ern auch auf die Schweiz überschwappte, war der Hype so gross, dass die Läden den ganzen Oktober über den Horror zelebrierten – mit Kürbisfratzen, Totenkopfmasken und Marzipanhexen. Das einzig Gute daran: Die Weihnachtsdeko blieb bis November im Keller.

Wenn mich heute im Manor das Grauen überkommt, dann nicht wegen der paar verschämt platzierten Halloweenrequisiten. Sondern weil die fleissigen Dekorationselfen die Spielzeugabteilung schon Anfang Oktober in ein glitzerndes Weihnachtswunderland verwandelt haben. Vor der Migros-Kasse verdreht bereits seit Wochen der Playmobil-Adventskalender meinen Kindern den Kopf und die Rollschinkli gab es schon mal als Sonderangebot, damit man sie einfrieren kann für Heiligabend. Und es wird nicht lange dauern, bis «Jingle Bells» aus den Warenhauslautsprechern tönt.

Wem jetzt nicht adventlich ums Herz wird, dem stehen schlimme Zeiten bevor.

Vorfreude ist etwas Tolles. Und auf ein Fest wie Weihnachten muss man sich einstimmen. Dazu gibt es den Advent: ein Kranz mit vier Kerzen, ein Kalender mit 24 Türchen. Jeden Tag ein Türchen, jeden Sonntag eine weitere Kerze. Eine simple, aber effektive Dramaturgie, um Spannung aufzubauen und Freude zu wecken.

Aber leider diktieren heute die Marketingabteilungen der Grossverteiler unseren Festkalender und der Countdown auf Weihnachten beginnt fast volle drei Monate im Voraus. Ich mag es den Detailhändlern ja gönnen, wenn ihre Kassen süss klingen zur Weihnachtszeit. Aber Weihnachtsstimmung im Oktober? Und Fasnachtschüechli, kaum ist Silvester vorbei? Und dann acht Wochen lang Osterfreude?

Geht das so weiter, wird irgendwann alles verschmelzen zu einem grossen Festtagseinerlei, und unsere Konsumtempel feiern das ganze Jahr über Weihnachten und Silvester und Fasnacht und Ostern und Nationalfeiertag und Kilbi und Halloween. Am 1. August werden verkleidete Gemeindepräsidenten vor brennenden Christbäumen in fremden Zungen das Weihnachtsevangelium als patriotische Parabel nacherzählen, dazu intoniert die Guggenmusik «O Tannenbaum» und die Kinder suchen im Schein ihrer Räbenliechtli die versteckten Schoggi-Osterhasen. Als Sternsinger kostümierte Schulkinder ziehen am 1. Mai von Haustür zu Haustür und rufen «Süsses oder Saures», worauf sie Chlaussäckli mit Mandarinen und Ostereiern geschenkt bekommen. Und das ganze Jahr über kleben einem Konfetti an den Schuhen.

In diesem Sinne: Gesegnete Pfingsten und einen fröhlichen 1. August Ihnen allen.

Flou-Flou für den Weltfrieden

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 6. Oktober 2014

Manchmal komme ich mir im Sandkasten vor wie ein Blauhelmsoldat der Uno. Zwar spielen meine zwei Kinder meist einträchtig miteinander, aber der innerfamiliäre Frieden ist fragil. Oft genügt eine Kleinigkeit, und es kommt zum Ausbruch von offenen Feindseligkeiten zwischen den Kleinen.
Die Konfliktgründe sind klassisch: Die Ressourcen sind knapp (beide wollen unbedingt Bagger spielen, und zwar partout im selben Moment, wir haben aber nur einen), der Platz ist knapp (sie will einen Berg aufschütten, er ein tiefes Loch graben – und zwar beide auf demselben Fleckchen Sand) und Langeweile paart sich mit kindlichen Allmachtsfantasien («Das ist mein Sandkasten!» –«Neiiin. Meiner!»).

Wenn die Köpfe meiner Kinder immer röter werden, ziehe ich die emotionale Splitterschutzweste über und setze das ganze Arsenal an friedenserhaltenden Massnahmen in Gang. Ich appelliere an die Vernunft, was bei Zwei- und Vierjährigen nur bedingt Erfolg hat. Ich versuche zu vermitteln und unterbreite ausgeklügelte Friedenspläne: «Ein Berg? Ein Loch? Am selben Ort? Dann machen wir doch zusammen einen Vulkan – und zwar ohne Bagger.» Als Nächstes ziehe ich eine Demarkationslinie, setze mich demonstrativ zwischen die beiden und schaufle links einen Berg und grabe rechts ein Loch. Und ich verweise auf mein Mandat des Sicherheitsrates («Mama würde genau das Gleiche tun.»). Nützt alles nichts, drohe ich mit drakonischen Sanktionen («Wenn ihr jetzt nicht aufhört, gibt’s heute Abend kein Barbapapa-Filmchen.»).

Unberechenbar wird die Situation, wenn der Nachbarsbub dazu kommt. Manchmal beruhigt sich die Situation. Häufiger bilden sich aber unheilige Allianzen: Die zwei Grossen gegen den Kleinen. Die Buben gegen das Mädchen. Meine Kinder gegen den anderen. Alle gegen alle. Und ehe ich mich versehe, werden Schaufeln zu Schwertern und Fingernägel zu Nahkampfwaffen und ich sitze im Sandkasten mit heulenden Kindern um mich herum.

Dann hilft nur noch meine deeskalative Wunderwaffe. Reihum nehme ich die Kinder in den Arm, bis ihr Wehklagen in ein Naseschniefen übergegangen ist, und sage dann: «Zeit fürs Zvieri. Wer will ein Schoggi-Flou-Flou?» Die Wirkung ist überwältigend: Tränen trocknen. Der Bagger, um den eben noch alle stritten, ist plötzlich uninteressant geworden. Ohne grosses Tamtam zottelt die Bande nach Hause, wäscht sich die Hände und setzt sich an den Tisch. Und spätestens nach dem zweiten Löffel Schoggipudding sind alle wieder die besten Freunde.

Umarmen und Flou-Flou essen: Wenn das mit dem Weltfrieden doch nur auch so einfach wäre.

Sündige 12000 Kalorien

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 18. September 2014

Völlerei ist ja eigentlich eine schwere Sünde. Das hat die katholischen Freiburger aber nicht daran gehindert, in ihren Brauchtumskalender eine kollektive kulinarische Orgie aufzunehmen: die Bénichon. Die Leibesfülle von Freiburger Priestern auf historischen Fotografien lässt vermuten, dass die hiesigen Kleriker nie von der Kanzel herab gegen das masslose Schlemmen wetterten, sondern dem herbstlichen Gelage ihren tatkräftigen Segen gaben. Denn die katholische Kirche hat zwar eine strikte Morallehre, ist aber klug genug, um zu wissen, dass der Geist ihrer Schäfchen zwar willig, deren Fleisch aber schwach ist. Und dass ein kontrollierter Exzess einmal pro Jahr das Masshalten während der übrigen Zeit erträglicher macht. Zudem ist das lustvolle Geniessen dessen, was Feld und Hof hergeben, ja auch ein schmatzendes Halleluja zu Ehren des Schöpfers. Und damit hat das Schlemmen auch theologisch seine Berechtigung.

Wie auch immer: Das traditionelle Freiburger Kilbi-Menü ist ein barockes Hochamt der Fülle, des Fleisches und des Fetts. Es wird gekocht und geschmaust, als gäbe es kein Morgen. Luftige Safranbrötchen, dick mit Butter und süss-saurem Kilbi-Senf bestrichen, eröffnen das opulente Mahl. Eine deftige Kohlsuppe zeigt Magen und Gedärmen, wo es langgeht. Und man tut gut daran, den Gurt jetzt schon ein wenig zu lockern.

Denn während man sich am Beinschinken labt, den Speck lobt und sich die Räucherwurst einverleibt, schmort in der Küche das Rosinen-Lammragout seiner Vollendung entgegen und die Büschelibirnen, diese harten Kerle, werden im Karamellsirup zu entzückend zuckersüssen Softies weich gekocht. Kaum ist der letzte Löffel Kartoffelstock mit Ragoutsauce im Mund verschwunden, werden Greyerzer und Vacherin aufgetragen. Schleckmäuler seufzen in freudiger Erwartung auf. Denn nach dem Käse kommt das Dessert: Meringues mit reichlich Double-Creme. Und weil es so gut schmeckt, gleich noch einen Löffel davon, bitte. Dazu Bretzeli – sie sind ja so hauchdünn, da dürfen es ruhig ein paar mehr sein–, Anisbrötli und, und, und. Mmhhh!

Natürlich ist der Kilbi-Schmaus ein diätetischer Irrsinn. Man nimmt geschätzte 12’000 Kalorien zu sich – Wein und Schnaps nicht mitgerechnet. Ernährungsberaterinnen fallen in Ohnmacht, wenn sie nur schon das Menü lesen. Und die Cholesterin-App auf dem Smartphone alarmiert noch vor dem Dessert den Notarzt. Und doch ist das Kilbi-Essen eine gesunde Sache. Weil damit den freudlosen Fitnessfanatikern die lange Nase gedreht und das tyrannische Diktat des perfekten Körpers mit der Freude an der Fülle gebodigt wird. Und eine Sünde wert ist es allemal. Amen.

Neu im Fitness-Angebot: Nordic Talking

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 2. September 2014

Nordic Walking war gestern, der Fitnesstrend von morgen heisst «Nordic Talking». Fit mit Finnisch! Schlank dank Schwedisch! Die fünf Norweger! Sie glauben mir nicht? Ich schenke Ihnen eine Schnupperstunde. Hier und jetzt. Machen Sie mit? Dann los.

Mit ein bisschen Isländisch wärmen wir uns auf. Alle miteinander: Eyjafjallajökull. Und nochmals: Eyjafjallajökull. Und jetzt fünfzig Mal hintereinander. Ein bisschen schneller. Aha, der isländische Vulkan bringt die ersten schon ganz schön ins Schwitzen. Und manche spüren Hirnwindungen, von denen Sie nicht einmal gewusst haben, dass es sie gibt. Sehr gut.

Dann gehts gleich weiter mit der ersten Übung. Wir deklinieren finnische Verben. Heute: Schwitzen. Hikoilla. Und los: Minä hikoilen, sinä hikoilet, hän hikoilee, me hikoilemme, te hikoilette, he hikoilevat. Nicht nachlassen. Und jetzt im Plusquamperfekt. Minä olin hikoillut, sinä olit hikoilutt, hän oli hikoillut, me olimme hikoilleet, te olitte hikoilleet, he olivat hikoilleet. Halten Sie das Tempo. Und zum Schluss noch eine Runde Konditionalis: Minä hikoilisin, sinä hikoilisit, hän hikoilisi, me hikoilisimme, te hikoilisitte, he hikoilisivat. Und durchatmen. Wow, das fährt ganz schön ein, oder? Dagegen ist Zumba Seniorengymnastik.

Die zweite Übung gehen wir etwas ruhiger an. Flirten auf Schwedisch im lockeren Laufschritt. Und eins, und zwei, und drei und … Hey, hur är läget? Vill du dansa med mig? Schön im Takt bleiben. Und eins, und zwei, und drei und … Har du en flickvän? Du är söt. Du har ett vackert leende. Jag tycker om dig. Und immer schön lächeln, auch wenn es wehtut.

Und damit zum Höhepunkt unserer heutigen Schnupperlektion. Eine kurze Einheit Wörterbuch-Rundlauf. Fischstäbchen bis Flaschenöffner auf Norwegisch. Ich will noch einmal vollen Einsatz sehen. Von allen. Entspannen können Sie sich im Yoga.

Und los: Fiskepinne, fisker, fiskestang, fiskesuppe… Den Puls können wir noch höher treiben. Fjellbukse, fjellvolk, fjellstøvel … Und durchziehen bis zum Schluss. Flaske, flaskeåpner, flaskekork. Und Fertig. Tut gut, sich einmal so richtig auszupowern, oder?

Das nächste Mal nehmen wir uns dann Astrid Lindgren im Original vor. Auf dem Laufband. Bis dahin können Sie ja schon mal mit dem Ikea-Katalog trainieren.

Jetzt aber erst einmal ab mit Ihnen unter die Dusche.

Diskriminierte Bratwürste

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 23. August 2014

Kaum ist der Darmlieferengpass bei den Cervelats verdaut, droht den Schweizer Wurstwaren erneut Ungemach: Die Bratwurst-Diskriminierung. Seit Tagen wird von den Plakatwänden herab an mein Gutmenschen-Gewissen appelliert: «Bratwurst-Diskriminierung stoppen!» Zwar habe ich nicht ganz verstanden, wer die Bratwurst benachteiligt: Die Veganer? Die Filet-Esser? Das Bundesamt für Gesundheit? Auch die Motive der Bratwurst-Diskriminierer sind mir schleierhaft. Und ich frage mich: Ist nur die Bratwurst betroffen oder werden auch die Wienerli geschnitten, die Salami herabgewürdigt und die Blutwurst unterdrückt? Ich habe keine Ahnung, aber eine klare Meinung: Es besteht dringender Handlungsbedarf.

Wenn jemand die Bratwurst diskriminiert, dann werde ich zur beleidigten Leberwurst. Denn Fleisch ist mir nicht Wurst und die Wurst punkto Fleisch das höchste der Gefühle. Andere mögen von rosa gebratenem Lammrücken schwärmen oder sich nach einem saftigen Steak sehnen, ich singe das Loblied der Wurst. Nicht nur, weil alles andere nur ein Ende hat, die Wurst aber deren zwei. Nein: Ein Stück rotes Fleisch über dem Feuer zu brutzeln, das machten schon die Neandertaler. Das ist keine Kunst. Aber aus, sagen wir es nett, wenig gefragten Fleischstücken und Gewürzen ein Produkt herzustellen, das schmeckt – das ist eine Kulturleistung, die man nicht hoch genug einschätzen kann. Das Kotelett ist die rohe Natur, die Wurst ist deren Veredelung, ist formgewordener menschlicher Erfindungsgeist. Nicht umsonst heisst es: Wo ein Wille ist, ist auch eine Wurst.

Ja, ich würde sogar so weit gehen, die Wurst als Sinnbild für die Schweiz zu bezeichnen. Unser Land ist ein Gemisch aus vier Sprachen und vielen Kulturen, so wie die Wurst ein Gemenge aus Hack, Speck, Salz und Gewürzen ist. Und was hält sie zusammen? Der Wille die Schweiz, die Hülle die Wurst. Wer deshalb die Bratwurst diskriminiert, der reitet auch einen Angriff auf unsere abendländische Kultur, ja, er rüttelt an den Grundfesten unseres Landes.

Um ein Zeichen gegen die staatsgefährdende Bratwurst-Diskriminierung zu setzen, ging ich deshalb kürzlich zum Metzger meines Vertrauens und erstand eine schöne Bauernbratwurst. Mit vielen Zwiebelringen briet ich sie zu Hause an, löschte mit Weisswein und Bouillon ab und liess die Wurst im Sud köcheln. Dann verzehrte ich sie, ganz diskriminierungsfrei, bis kein Zipfel mehr von ihr übrig war.

Selten hat es so gut getan, meine staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen.

Ein Blackout als Sternstunde

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 19. August 2014

«Weißt du, wieviel’ Sternlein stehen?» gehört bei meinen Kindern zum allabendlichen Einschlafritual dazu. Mitten in der dritten Strophe wollte meine vierjährige Tochter neulich wissen, wie viele Sternlein denn nun eigentlich am Himmel stünden. Ich wusste es nicht. Und weil an ein Einschlafen nicht zu denken war, bevor diese Frage nicht geklärt war, gingen wir auf den Balkon, um nachzuzählen. Wir waren schnell fertig: Wir kamen auf 27, plus einen Planeten und drei blinkende Flugzeuge. Meine Tochter war mit diesem Resultat zufrieden. Ich nicht.

Nachdem sie eingeschlafen war, googelte ich und fand heraus, dass man früher bis zu 6500 Sterne am Himmel ausmachen konnte. Mit blossem Auge. Aber solch pechschwarze Nächte und sternenübersäte Nachthimmel gibt es im lichtverschmutzen Siedlungsbrei des Mittellandes schon längst nicht mehr. Oder wann haben Sie das letzte Mal die Milchstrasse gesehen?

Ernüchtert ging ich wieder auf den Balkon. Es war inzwischen etwas dunkler geworden, und tatsächlich funkelten nun ein paar Sterne mehr am Himmel über Villars-sur-Glâne. Aber die himmlische Lichtshow blieb äusserst mager. In diesem Augenblick verglühte eine Sternschnuppe, und ich wünschte mir, der Freiburger Stromsparminister Beat Vonlanthen würde seine Off-Kampagne weitertreiben und verfügte in einer Anwandlung christdemokratischen Absolutismus einmal pro Woche eine Stunde lang ein totales Lichterlöschen im ganzen Kanton Freiburg.

Die Strassenlampen würden ausgehen, die Einkaufszentren müssten ihren Leuchtreklamen und Schaufenstern die Stecker ziehen. Für Privathäuser gälte die absolute Verdunkelung. Autos, Busse und Züge blieben stehen und schalteten die Scheinwerfer aus. Groupe E würde die Generatoren stoppen und wehe dem, der die Dunkelheit mit seinem Handydisplay erleuchten würde.

Für eine Stunde würde sich Freiburg in ein schwarzes Loch im Lichtermeer zwischen Lausanne und Bern verwandeln. Die Menschen stünden zu Tausenden auf der Strasse, auf den Balkonen oder am Fenster, schauten zum Himmel hoch und würden – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – die Milchstrasse sehen. Und meine Tochter und ich würden beim tausendundersten Stern aufhören zu zählen und einfach nur staunen über das himmlisch schöne Schauspiel.

Zugegeben: Ein solcher von oben herab befohlener Blackout wäre kein demokratischer Glanzmoment. Aber eine Sternstunde. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Foto: © Olli Henze, Milkyway/Harz, CC-Lizenz, Flickr, https://www.flickr.com/photos/gruenewiese/14128224250

Holen wir die WM nach Freiburg

WM-Glosse in den Freiburger Nachrichten vom 5. Juli 2014

Russland ist 2018 dran. 2022 Katar. 2026 darf die WM laut Fifa-Regeln nicht in Europa stattfinden. Aber wir sind ja nicht in Europa. Also sollten wir uns um die Fussballweltmeisterschaft 2026 bewerben, finde ich. Und mit «uns» meine ich nicht die Schweiz, sondern den Kanton Freiburg.

Was Brasilien kann, können wir auch. Denn mal ganz ehrlich: Was unterscheidet Freiburg von Brasilien? Eigentlich nichts Entscheidendes: Sie haben die Copacabana, wir den Sensestrand. Sie die Christusstatue, wir die Loretto-Kapelle. Sie haben indigene Völker, wir die Greyerzer. Und die südamerikanische Lebensfreude toppen wir mit charmanter voralpiner Verknorztheit. Am wichtigsten aber: Freiburg und Brasilien sind beides Schwellenländer auf dem Sprung zur Wirtschaftsmacht. Noch Kuhmist an den Sohlen, machen wir in der blauen Fabrik auf Zukunft und setzen auf Biotech. Genau wie Brasilien. Die Ambitionen gross, die Bevölkerung jung, das Budget knapp. Die Lehrer gehen auf die Strasse, weil ihre Löhne gekürzt werden: Hüben wie drüben dasselbe Lied.

Und darum holen wir die WM jetzt nach Freiburg. Sie wird uns gut tun. Einen Monat lang schaut die Welt auf unseren Kanton: Der Imagegewinn – unbezahlbar. Die Fans aus aller Welt, und danach die Touristen, die Firmen – sie alle bringen Geld. Ein Ruck geht durch den Kanton. Deutsch und Welsch stehen zusammen. Freiburg wird zum Motor der Schweizer Wirtschaft.

Die Stadien fehlen? Ich bitte Sie, das ist doch kein Grund. Der Kanton hat Erfahrung damit, auf die Schnelle grosse Projekte zu realisieren. Dass die am Ende dann teurer werden als geplant, nun ja, das gehört irgendwie zur Natur der Sache. Dafür sind die Bauten spektakulär: Ein schwimmendes Fussballfeld auf dem Murtensee («fifaplage»). Eine Alpenarena in Schwarzsee, bei der das Wolfsgeheul aus den umliegenden Bergen die Pfeife des Schiedsrichters übertönt («Die Voralpenhölle» titeln die ausländischen Medien). Die Verantwortlichen der Jazz Parade übernehmen die Organisation. Hubert Audriaz gestaltet die Eröffnungsfeier als bunten Kindergeburtstag. Gustav singt inbrünstig die von ihm neu getextete und komponierte Schweizer Nationalhymne. Und beim Eröffnungsspiel Schweiz – Deutschland geht im entscheidenden Moment das Licht im Stadion aus, was Beat Vonlanthen entzückt mit «OFF-Side» kommentiert.

Kurz: Es wird ein Debakel. Es wird ein Fussballfest.

Wir brauchen nur noch die Fifa zu überzeugen. Sie wissen ja, wie das geht. Ihre Argumente können Sie mir in unauffälligen Umschlägen zukommen lassen. Bis zur Vergabe der WM 2026 haben wir sicher die nötigen paar Millionen gute Gründe beisammen.

Das 2:5 ist meine Schuld

WM-Glosse in den Freiburger Nachrichten vom 23. Juni 2014

Ich bin schuld daran, dass die Schweiz gegen Frankreich so schmählich verloren hat. Nicht Benaglio. Nicht Lichtsteiner. Nicht Shaqiri. Schon gar nicht Hitzfeld. Ich ganz allein. 

Ich hätte die Fahne aufheben sollen, dann wäre alles anders gekommen. Sie lag mitten auf der Kreuzung. Beauregard-Midi. Ein kleines Schweizer Fähnchen, wie man es in den Tankstellenshops gratis bekommt, wenn man zwei Kästen Bier, einen Sack Holzkohle und 35 Cervelats kauft. Eines jener Fähnchen, die sich Fans an ihr Auto montieren. Nun lag es auf der Strasse, zerknittert, dreckig. Sieben Stunden vor dem Anpfiff. Es musste von einem Schweizer Fan-Mobil abgefallen sein. Vielleicht hatte der Fahrer es nicht fachmännisch montiert, vielleicht war das hehre Tuch billige Chinaware, das dem Fahrtwind nicht standgehalten hatte. Vielleicht hatten sich auch zwei Autos gekreuzt, beide beflaggt, ein Schweizer Fan und ein Anhänger der «Bleus». Sie waren sich gefährlich nahegekommen – und die Trikolore hatte mehr Standfestigkeit bewiesen.

Wie auch immer: Ich sass im Bus, sah aus den Augenwinkeln die geschändete Standarte und wusste instinktiv, was ich tun musste. Oder hätte tun sollen. Denn wenn ich eines gelernt hatte aus den unzähligen Römer-, Ritter- und Kriegsfilmen, die ich gesehen habe, dann dies: Der General mochte taktisch noch so gewieft sein, die Sturmspitze noch so furchtlos – lag die Fahne erst am Boden, dann war die Schlacht vorbei und der Krieg verloren.

Unter lauten «Hopp Schwiiz»-Rufen hätte ich aus dem Bus stürzen sollen. Todesmutig hätte ich durch den dichten Verkehr in die Mitte der Kreuzung hechten und das Fähnlein hochheben sollen, bevor ein Lastwagen voller Gänseleber es überrollen würde. Rings um mich hätten die begeisterten Fans gehupt und Fahnen geschwenkt. Ich wäre der Held gewesen.

Wahrscheinlich wäre ich auf der dicht befahrenen Kreuzung auch einfach unter die Räder gekommen. Und ich hatte keine Lust, einen filmreifen Heldentod zu sterben. (Die über mich gebeugten Sanitäter schütteln traurig den Kopf. Mit einer Träne in den Augen und dem Ausdruck grimmigen Patriotismus–«Sein Tod war nicht umsonst» – nehmen sie die Fahne aus meiner kalten Hand. Zoom auf das wehende Schweizerkreuz. Überblendung zum Schweizer Siegestreffer gegen Frankreich. Ende.) Ich hatte eigentlich überhaupt keine Lust, zu sterben. Und der Bus fuhr weiter. Und ich musste zur Arbeit.

Den Rest kennen Sie ja. Jetzt wissen Sie auch, wer es vermasselt hat.

Exgüsi!