Birkenmeier wusste im Nachhinein selbst nicht, welcher Teufel ihn geritten hatte. Die Sätze waren ihm einfach so rausgerutscht, am Freitagabend nach der Musikprobe am Stammtisch der «Eintracht». Sie sassen beim dritten, vierten Bier, als die Rede auf den Wolf kam. Roggo erzählte, er habe zwei Nächte zuvor einen Wolf heulen gehört, vom nahen Wald her, der Wildhüter habe auch Spuren im Schnee gefunden. Jungo klagte, die Bestie habe ihm letzte Saison auf der Alp drei Schafe gerissen, nicht etwa gefressen, nur zerfetzt habe er sie, worauf Kolly polterte, sein Gewehr sei geladen, der solle nur kommen, der Sauhund.
«Sauwolf», warf Birkenmeier laut in die Runde und nahm einen Schluck Bier. Wenn schon, dann müsse es Sauwolf heissen, nicht Sauhund, auch wenn der Hund natürlich vom Wolf abstamme. Roggo, Jungo und Kolly starrten Birkenmeier entgeistert an. Aber das stoppte Birkenmeier nicht, im Gegenteil. Überhaupt dünke es ihn, die Schafzucht sei in erster Linie ein von der öffentlichen Hand subventioniertes Hobby und keine ernstzunehmende landwirtschaftliche Tätigkeit, fuhr Birkenmeier fort.
Inzwischen hörten auch die Gäste an den anderen Tischen ihm zu.
Zudem zahle der Bund Schadenersatz für jeden Wolfsriss, damit sei die Sache ja wohl erledigt. Wenn ihm die Schnecken im Garten den Salat wegfrässen, jammere er auch nicht. Und Geld vom Bund bekomme er dafür erst recht keins. Sowieso sei ja der Wolf zuerst da gewesen. Das müsse einfach auch einmal gesagt sein. «Und jetzt Prost, Kameraden.»
Es wurde unheimlich still in der «Eintracht», nur das Radio dudelte unbeirrt vor sich hin. Kolly war bleich und rang nach Atem, Roggo hatte einen zündroten Kopf und ballte die Fäuste. Nach einem Weilchen räusperte sich Jungo. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt. «Das hätte ich jetzt nicht von dir erwartet, Markus.» Dann stand er auf, nahm seine Jacke von der Stuhllehne und verliess wortlos die Beiz. Kolly und Roggo taten es ihm nach. Die Zeche überliessen sie Birkenmeier.
Erst jetzt begriff Birkenmeier, was er angerichtet hatte. Er trank sein Bier aus und verfluchte seine Dummheit. Dann bestellte er einen Schnaps, stürzte ihn runter, und bedeutete Anja, die hinter dem Tresen Gläser spülte, sie solle ihm gleich die ganze Flasche mit dem Klaren an den Tisch bringen.
Auf einmal war er wieder da, der Graben zwischen ihm, dem Zugezogenen, und ihnen, deren Grossväter schon an diesem Stammtisch ihr Cardinal getrunken hatten. Dabei war Birkenmeier das Paradebeispiel für eine gelungene Integration ins Dorfleben. Vor 35 Jahren war er hierhergezogen, die Wohnung war billig, die Aussicht schön und dank der nahen Autobahn war er in 30 Minuten in Bern, wo er beim Bund arbeitete. Er war einer der ersten Neuzuzüger im Dorf gewesen, entsprechend skeptisch hatten ihn die Einheimischen am Anfang betrachtet. Zumal er mit seinem St.-Galler-Dialekt aneckte, sobald er den Mund aufmachte.
Aber davon hatte sich Birkenmeier nicht entmutigen lassen. Langsam erkämpfte er sich den Respekt und das Wohlwollen der Alteingesessenen. Es war für ihn Ehrensache, im Dorflädeli einzukaufen, obwohl er dasselbe zwei Dörfer weiter in der Migros weitaus billiger bekommen hätte. Selbstverständlich hatte er die Lokalzeitung abonniert. Nach einem halben Jahr wurde er auf der Gemeinde vorstellig und fragte nach, ob die Feuerwehr noch einen Mann gebrauchen könnte. Nach der ersten Übung mit der Motorspritze auf dem Sportplatz machten die ersten Duzis mit ihm. Und nach der zweiten Übung verstand er auch, was der Kommandant von ihm wollte, wenn er «wùy» und «ay» schrie.
Überhaupt der Dialekt: Anfänglich eine Quelle von Missverständnissen, hatte das Senslerdeutsch seinen Schrecken für Birkenmeier längst verloren. Ja, Birkenmeier hatte sich sogar ein wenig in die rauhe Sprache verliebt und fand den falschen Gebrauch des Akkusativs charmant. Er begann sich für Gottéron zu interessieren, um am Stammtisch mit seinen Feuerwehrkollegen mitdiskutieren zu können, obwohl es kein Vergnügen war, den Drachen beim Verlieren zuzusehen. Er marschierte mit der Blasmusik in der Fronleichnamsprozession mit, obwohl er Protestant war, aber sie brauchten halt noch eine dritte Posaune, und da war die Konfession zweitranging.
Vollständig brach das Eis aber erst, als er Regula heiratete, die im Dorflädeli hinter der Kasse sass. Er hatte sie von Anfang an anmächeliger gefunden als die schlappen Salate in der Auslage. Zwar stammte sie aus dem Nachbardorf, ging aber trotzdem als Hiesige durch, und sie begrüsste alle Kunden mit Namen. Am Hochzeitstag schossen die Feuerwehrkollegen in aller Herrgottsfrühe mit Milchbränten. Und als Lea, ihre Tochter, auf die Welt kam, stellten die Feuerwehr, die Blasmusik und der Turnverein, bei dem Birkenmeier inzwischen auch mittat, ein Bäumchen vor seinem Haus. Denn Birkenmeier konnte es gut mit den Leuten. Und seinen Gifferstee, das versicherten ihm Jahr für Jahr beim traditionellen Weihnachtsapéro die Nachbarn, von denen er einige als Freunde betrachtete, könnte auch ein Einheimischer nicht besser brauen.
Birkenmeier trug sich inzwischen sogar mit dem Gedanken, bei den nächsten Wahlen im Herbst seiner Gemeinde als Gemeinderat zu dienen. Mitglied in der richtigen Partei war er schon seit längerem. Und seit er pensioniert war, hatte er auch Zeit.
Aber daran war jetzt nicht mehr zu denken. Er hatte für den Wolf Partei ergriffen. Ein unverzeihlicher Fauxpas, das war Birkenmeier schmerzlich bewusst. Hätte ich doch nur den Mund gehalten, fluchte er, als er die «Eintracht» verliess und in die klirrend-kalte Winternacht hinaustrat. Seine Schritte waren etwas unsicher, das kam von den sieben Schnäpsen, die er auf Ex getrunken hatte. Oder waren es acht gewesen? Spielte sowieso alles keine Rolle mehr, dachte Birkenmeier, als er sich ausmalte, was nun mit ihm geschehen würde. Neuigkeiten verbreiteten sich schnell im Dorf, das wusste er. Spätestens übermorgen wüssten alle bescheid. Und dann wäre er zum Abschuss freigegeben. Freiwild.
Sosehr er auch sein vom Alkohol vernebeltes Hirn zermarterte, ihm fiel kein Ausweg ein. Schwankend schlitterte er über das vereiste Trottoir. Als er in die Strasse zu seinem Haus einbog, ging er mit etwas zu viel Schwung in die Kurve, seine Füsse verloren den Halt, und obwohl er wild mit seinen Armen ruderte, gelang es ihm nicht, sich aufrecht zu halten. Rückwärts fiel er in den Schnee. Einen Moment blieb Birkenmeier benommen liegen und sah seinem Atem zu. Kleine Wölkchen in der kalten Luft. Das Blut rauschte ihm in den Ohren. Fluchend hievte Birkenmeier seinen Oberkörper in die Vertikale.
Dann sah er sie. Die Bestie. Keine zehn Schritte entfernt von ihm, vor seinem Haus, stand mitten auf der Strasse ein Wolf und stierte Birkenmeier an. Dass es ein Wolf war, daran gab es für Birkenmeier keinen Zweifel. Der schlanke Körper, die buschige Rute, das unheimliche Gesicht. Das musste der Wolf sein, den Roggo gehört hatte. Heruntergestiegen von den Bergen.
Wild, durchtrieben, hungrig.
Vorsichtig rappelte sich Birkenmeier auf, seine rechte Hand, mit der er sich am Boden abstützte, bekam etwas Scharfkantiges zu fassen. Ein Stein. Instinktiv schlossen sich seine Finger um den Stein. Dann stand Birkenmeier auf. Der Mut der Verzweiflung wallte durch seinen Körper wie eine Tasse Gifferstee: euphorisierend und warm. Denn auf einmal wusste Birkenmeier, was er tun musste.
Der Stein lag schwer und gut in seiner Hand.
Langsam ging Birkenmeier auf den Wolf zu, den Stein fest umklammert. Acht Schritte, sieben. Der Wolf reckte die Schnauze in die Luft und schnüffelte. Sechs Schritte, fünf. Jetzt begann das Tier mit dem Schwanz zu wedeln. Nein, das bilde ich mir nur ein, dachte Birkenmeier. Entschlossen schritt er weiter, die letzten anderthalb Meter nahm er im Sprung, den Stein schwang er hoch über seinem Kopf und liess ihn mit voller Wucht auf den Schädel des Wolfs krachen. Immer und immer wieder. Bis das Tier mit eingeschlagenem Schädel regungslos auf dem Boden lag.
Birkenmeier kniete daneben und schnaufte heftig. Das Adrenalin in seinem Körper liess nach, an seine Stelle trat ein Gefühl von absoluter Müdigkeit. Und von Glück. Er, Birkenmeier, hatte es geschafft, vom Wolfsversteher zum Wolfstöter zu werden.
Im Halsumdrehen sozusagen.
Gleich morgen würde er auf der Redaktion der Lokalzeitung anrufen und erzählen, wie das wilde Tier ihn angegriffen und er sich nur mit lieber Not habe retten können. Die Schlagzeilen würden seinen Fauxpas in der «Eintracht» vergessen machen. Aber jetzt musste er erst einmal schlafen. Birkenmeier ging ins Haus und liess sich in seinen Kleidern aufs Bett fallen, wo er sofort in einen traumlosen Schlaf versank.
Birkenmeier erwachte erst, als am nächsten Morgen Aebischer, der Dorfpolizist, an seiner Türe klingelte. In seiner Auffahrt liege Cindy, die Schäferhündin vom Roggo, sagte Aebischer. Übel zugerichtet. Erschlagen. Das arme Tier. Ob Birkenmeier letzte Nacht vielleicht etwas aufgefallen sei? Und dabei blickte Aebischer auf Birkenmeiers Hände, an denen noch immer Blut klebte.