Lob der Schleimerei

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 10. Februar 2025

Die Hain-Schnirkelschnecke ist das Tier des Jahres – und ich bin ganz aus dem Häuschen. Denn ich liebe Schnecken. Mit Zimt, nicht mit Knoblauchsauce. Am liebsten aber mag ich sie in freier Natur. Faszinierende Geschöpfe. Einzig bei den Nacktschnecken hört meine Liebe auf. Da bin ich prüde. Beziehungsweise von meinem Vater sozialisiert, einem passionierten Gärtner, der diesen FKKlern mit einer rostigen Schere den Garaus machte.

Die Hain-Schnirkelschnecke aber, die ist mir sympathisch. Ich denke, wir könnten uns einiges von ihr abgucken. Sie macht nämlich, wie alle Schnecken, einen äusserst wertvollen Job. Sie verwandelt verwelkte Pflanzenteile, Aas oder Tierkot in wertvolle Erde und hält damit unsere Böden fruchtbar. Oft sind es eben die Stillen und scheinbar Unscheinbaren, die wir gerne übersehen, die unsere Aufmerksamkeit und unseren Applaus verdient hätten. Und nicht die Lautsprecher, Muskelprotze und Plagööris, die andere gerne zur Schnecke machen.

Natürlich läge es nahe, hier das Lob der Langsamkeit zu singen. Die Hain-Schnirkelschnecke als Vorbild der Entschleunigung und Achtsamkeit. Schneckentempo statt Tempoteufel. Aber mal ganz ehrlich? Sich nur noch 3,5 Meter pro Stunde fortbewegen? Da käme ich nie auf meine 10000 Schritte am Tag und würde angesichts meiner Ernährung (Zimtschnecken!) bald so fett, dass ich nicht mal mit tüchtig Knoblauchsauce geniessbar wäre.

Inspirierender als ihr Tempo finde ich das Hilfsmittel, mit dem sich Schnecken fortbewegen: ihren Schleim. Damit bauen sich Schnecken ihre eigene Strasse, auf der sich unbeschadet auch über spitze Sachen und rauen Untergrund kriechen können. Ihr Schleim ist so stark, dass sie damit sogar senkrechte Mauern hochkommen.

Eine solche Schleimspur bräuchten wir in Zeiten wie diesen, wo die Menschen wieder Mauern hochziehen und sich in ideologischen Schützengräben verschanzen. Und wo orange-braune Machtschnecken mit dem Fein- und Mitgefühl einer Dampfwalze die zarten Pflänzchen Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte platt machen.

Natürlich könnten wir angesichts der garstigen Welt in unser Häuschen zurückziehen. Aber wie wäre es, wenn wir stattdessen diesen Widerwärtigkeiten begegneten, indem wir uns eine fette Schleimspur legen würden? Eine Schleimspur aus Anstand, Höflichkeit, Rücksicht und Liebe, auf der wir langsam, aber unbeirrt vorankämen. Und dabei auch die eine oder andere scheinbar unüberwindbare Mauer bezwingen würden.

Ich glaube, das wäre nicht die schlechteste Art, durchs Leben zu gehen.

Danke, liebe Hain-Schnirkelschnecke, fürs Vormachen.

PS: Am Mittwoch, 12. Februar, lese ich meine Lieblingskolumnen im Senslerhof in St. Antoni. Beginn: 13.30 Uhr

Bild: Mad Max/Wikipedia

Ein Gedanke zu „Lob der Schleimerei“

  1. Lieber Stephan, Deine Kolumne über die Hain-Schnirkelschnecke finde ich herrlich. Ich werde mich im Garten auf die Suche nach der sympathischen Schnecke machen. Aber zuerst muss ich natürlich wissen wie sie aussieht. Leider sind die unsympathischen Kriecher in der Ueberzahl. Die vertilgen rücksichtslos reihenweise frisch gesetzte Salatsetzlinge, und das in meinen Hochbeeten (aber es gibt wahrlich Schlimmeres!) Herzliche Grüsse aus Adliswil Beatrix

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