Tour de Suisse

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 18. Juni 2019

Als es nach Flamatt den Stutz hinauf ging, fluchte Platten. Die dritte Etappe war noch keine zwei Minuten alt und er hasste sie schon. Schon als 15-Jähriger war er bei den Bergrennen des VC Hefenhofen stets das Schlusslicht gewesen. Es lag nicht an der Kraft. Am Hang stand er einfach auf dem Schlauch. Mental.

Er hatte sich trotzdem zu einer Karriere als Velorennfahrer überreden lassen. Das schien ihm allemal besser als das KV. Und er hatte ja durchaus seine Glanzmomente gehabt. Auf Kopfsteinpflaster. Doch seine jugendliche Leichtigkeit hatte er längst verloren, weshalb er auch deutlich weniger verdiente als die Kollegen seines drittklassigen Teams. Und im Hotel bekam er das Zimmer über dem Dampfabzug der Küche. Schweiss und Schmerzen am Tag, Pommes-Gestank in der Nacht.

Dazu die Demütigung, immer nur die in Polyester gepackten Hinterteile seiner Konkurrenten zu sehen. Wie gerne hätte er ihnen allen in den Arsch getreten. Aber so nahe kam er gar nicht an sie ran, nur den Dreck, den bekam er ab, wenn sie durch die Pfützen sausten. Bei der letzten Etappe hatte ihn sogar der Besenwagen überholt – und es nicht einmal gemerkt.

Da vorne kam ein Dorf. Schulkinder säumten die Strasse. Abkommandierte Statisten der geheuchelten Begeisterung. Er sah nicht, wie ein Bub im Überschwang sein Fähnchen hoch in die Luft schleuderte. Aber er spürte, wie sich der Holzstab in die Speichen klemmte und das Vorderrad blockierte. Schwerelos flog er durch die Luft – einmal Armstrong sein, wenn auch der falsche – und knallte dann auf den Asphalt.

Als er wieder zu sich kam, beugte sich eine Frau über ihn. Sie hatte keine Velorenn-Figur. Mollig war sie, aber kräftig genug, um ihn von der Strasse aufzuheben wie ein kleines Kind, das vom Trotti gefallen war. Sie bettete ihn auf die Wiese und blieb beim ihm, als der Notarzt kam. Das wärs dann gewesen mit der Tour, sagte der und zeigte auf den Unterschenkelknochen, der aus der offenen Wunde hinausragte. Und mit dem Rennsport wohl auch.

Was er jetzt denn mache, fragte ihn die Frau mitleidig. Eigentlich würde er einfach gerne bei ihr bleiben, sagte Platten, aber er könne Pommes nicht ausstehen, das sage er lieber gleich. Sie auch nicht, sagte sie und lächelte. Wo er eigentlich sei, fragte er. In Wünnewil, sagte sie. Seis drum, sagte er, mit ihr könne er auch in Wünnewil glücklich werden. Und das wurden sie dann auch.

Aber so schön ist die Tour de Suisse leider nur in dieser Kolumne. In Wirklichkeit ist sie wie schlechter Sex: enttäuschend schnell vorbei. Und dass man dabei ein Werbehütchen der Vaudoise aufhat, macht die Sache definitiv auch nicht besser.

Der Mond ist voll

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 4. Juni 2019

«Der Mond ist saufen gegangen, seht ihr ihn am Tresen hangen, sternhagelvoll und breit …» Schonungslos nüchtern hat der deutsche Dichter Matthias Claudius – ansonsten eher von romantischen Anwandlungen durchwabert – in seinem 1779 veröffentlichten «Abendlied» das wahre Wesen des Mondes als eines schwer alkoholkranken Himmelskörpers besungen. Bekannt geworden ist Claudius’ «Abendlied» übrigens erst in einer von seinem Lektor erarbeiteten entschärften Fassung («Der Mond ist aufgegangen»). Aber seine Beobachtung stimmt: Der Mond macht uns nicht süchtig, er ist es selber. Die amerikanische Flagge jedenfalls, die Neill Armstrong und Buzz Aldrin am 21. Juli 1969 auf dem Mond aufpflanzten, war nicht die erste Fahne, die dort oben wehte.

Der Mond, das ist eine klassische himmeltraurige Trinkerkarriere. Immer wieder nimmt er sich aufs Neue vor, trocken zu bleiben. Was ihm auch gelingt – aber nur einen Tag lang. Wie ein neuer Mond fühlt er sich dann jeweils. Aber dann überkommt ihn erneut das Verlangen und er kippt sich was hinter die zarte Sichel. Nicht viel. Nur was, um sich ein bisschen glänzender zu fühlen. Und weils so guttut, gleich noch ein zweites Gläschen. So füllt er sich die Himmelslampe, und nach vierzehn Tagen ist der Mond voll bis unter die Kraterkante.

Eine Nacht lang sonnt er sich im Rausch. Umso brutaler dann der Kater. 14 Tage ausnüchtern. Therapiesitzung bei den Anonymen All-Koholikern, wo der Mond sich und den anderen weiszumachen versucht, er habe kein Problem mit dem Trinken, er sei ja nur phasenweise voll. Was den Meteoren völlig schnuppe ist, und Neptun, wie immer blau, nimmt ihn eh nicht für voll.

Wieso der Mond säuft? Ich vermute mal, weil er gerne ein anderer wäre, als er ist. Kein treuer Trabant, sondern ein heisser Ferrari, wenn Sie verstehen, was ich meine. Der Mond fühlt sich zu mehr berufen als Ebbe und Flut. Seine dunkle Seite ausleben, das möchte er: das Kalb rauslassen. Mit den Jupitermonden durch die Milchstrasse ziehen und White Russians schlürfen. Oder einen Kometen mit seiner Anziehungskraft für immer aus der Bahn werfen. Und einmal nur, einmal nur aufgehen über der Venus.

Hochfliegende Träume hat der liebe Mond, aber die Schwerkraft zieht ihn gnadenlos runter. Die Erde hält ihn an der kurzen Leine. Das macht ihn schwermütig, und gegen Schwermut hilft nur Wermut. Oder wie Matthias Claudius im zweiten Teil der ersten Strophe seines «Abendlieds» (der Originalfassung) dichtet: «Das All steht schwarz und schweiget, nur aus dem Glase steiget ein kleines bisschen Fröhlichkeit.»

Bauchnäbel und Bademäntel

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 18. Mai 2019

Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii und ging auch nie durch San Francisco in zerrissnen Jeans. Ich sass übrigens auch noch nie im weissen Bademantel an einem durchsichtigen Flügel. Aber trotzdem singt mir Udo Jürgens aus dem Herzen. Ich war noch nirgends. Was kein Problem wäre, wenn nicht immer alle anderen erzählen würden, wo sie schon alles gewesen sind.

Kennen Sie das? Da sitzt man in einer gemütlichen Runde zusammen und schon gehts los mit den Reiseerzählungen: Australien («Dieses Jahr mal die Westküste. Eindrücklich!»), Neuseeland («Immer wieder schön.»), Thailand («Das Essen, toll, und die Leute, alle so nett.»), mit dem Camper durch die USA («Diese Weite!»), Galapagos («Noch nicht so überlaufen»), Safari in Kenia («Die Löwen waren enttäuschend.»). Und alle schwärmen eifrig mit, weil alle schon überall waren, und wo sie noch nicht waren, gehen sie nächstes Jahr garantiert hin. Auf die Malediven zum Beispiel («So lange es sie noch gibt.»). Nur ich sag dann nichts, weil Kaninchenfüttern im Reka-Dorf halt nicht so ­sexy ist wie Whale-Watching in Island.

Manchmal schiebe ich dann meine Kinder vor. Mit denen seien lange Reisen halt mühsam, sage ich und fühle mich schlecht dabei, weil ich meine Kinder gleich behandle wie die SVP die Ausländer: immer schuld an allem – obwohl sie gar nichts dafür können.

Denn es liegt ja an mir. Und ich frag mich dann schon: Mach ich was falsch? Verpass ich etwas, wenn ich nicht zwei Mal im Jahr um die halbe Welt jette? Reisen erweitert den Horizont, heisst es ja so schön. Aber ich habe da ehrlich gesagt meine Zweifel. Denn der Bauchnabel fliegt ja mit, als Mittelpunkt der Welt, als Kompass und Gradmesser für alles Fremde. Was dann dazu führt, dass man die Ignoranz zur Abwechslung mal zwei Wochen vor exotischer Kulisse spazieren führt: «Die haben so wenig und sind trotzdem alle total zufrieden.»

Und überhaupt: Wären die gesammelten Flugmeilen ein Gradmesser für die Weltoffenheit, dann würden wir ja nicht Zäune hochziehen, wenn die Welt zu uns kommt.

Aber vielleicht tue ich all den Weitgereisten ja Unrecht. Vielleicht bin ich ja auch nur ein selbstgerechtes Astloch mit engem Horizont, dem der eigene Nabel schon Attraktion und Abenteuer genug ist. Vielleicht täte mir eine Fernreise mal so richtig gut, um meinen Blick zu weiten. Was Knalliges: Walross-Reiten in Alaska oder Islamisten-Streicheln in Kabul zum Beispiel.

Oder vielleicht kaufe ich mir einfach einen weissen Bademantel. Dann ist fertig Nabelschau und der Blick frei für die Welt um mich herum.

Auch Mittelmass macht Spass

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 26. April 2019

«Lebe jeden Tag so, als wäre es dein letzter», las ich neulich auf einem Zuckerbeutel. Krass, dachte ich. Man weiss ja, dass zu viel Zucker einen frühen Tod bedeutet, aber dass es gleich so schlimm ist, hätte ich nicht gedacht. Erst beim zweiten Hinschauen merkte ich: Das ist gar kein Warnhinweis vom Bundesamt für Gesundheit. Sondern eine Lebensweisheit. Oder eher eine Lebensdummheit.

Ich weiss ja nicht, wie es Ihnen geht, aber wenn ich nur noch einen Tag zu leben hätte, würde ich nur eines tun: meine Liebsten in den Arm nehmen und nicht mehr loslassen. Nun ist es ja sicher nicht falsch, täglich seine Liebsten zu herzen. Aber eine tagesfüllende Beschäftigung ist das nicht. Und das meinen die Glücksgurus und die Freizeit- und Konsumindustrie auch nicht, wenn sie uns diesen Satz um die Ohren hauen. Ihnen geht’s um was ganz anderes: Fun bis zum Exzess. Downhill am Mount Everest. Tauchkurs auf Bali. Bungee Jumping im Hölloch. Ganz intensiv leben, mit jeder Faser des Körpers; gierig das Mark des Lebens aufsaugen, um nicht auf dem Sterbebett zu merken, dass man gar nicht gelebt hat. Und natürlich alles als Instant-Erlebnis buchbar.

Wahnsinnig anstrengend. Und total egoistisch: Noch einmal Eisbären in der Arktis sehen, bevor es beides nicht mehr gibt. Auf Teufel komm raus Spass haben und nach mir die Sintflut. Vor allem aber geht mir dieser unselige Optimierungswahn auf den Keks: Jeder Moment muss magisch sein. Jeder Tag perfekt. Darunter geht’s nicht. Dabei macht doch auch Mittelmass Spass. Und lauwarm leben ist auch kein Verbrechen.

Je länger ich über den Spruch nachdachte – kurzer Einschub für die jüngeren ­Leser: Nachdenken ist wie ­Googeln, nur krasser, weil man es selber machen muss und meistens nicht innert Sekunden auf 27 245 876 Resultate kommt, sondern auch nach Stunden auf gar keines –, als ich also über den Spruch nachdachte (okay, ich googelte), stiess ich auf einen weiteren Satz: «Lebe jeden Tag so, als wäre es dein erster.» Sich die Neugierde und das Staunen eines Kindes bewahren. Jeden Morgen aufs Neue erstaunt und beglückt merken, dass man nicht alleine im Bett liegt. Schön. Aber auch nicht sehr praktikabel. Denn seien wir ehrlich. Es braucht doch im Leben auch Routine, Vertrautheit, Gewissheit, Verlässlichkeiten. Sie sind der Boden, auf dem das Glück erst spriesst. Oder nicht?

Und übrigens muss man zuerst Zeit säen, bevor man den Tag pflücken kann. Ich weiss zwar nicht genau, was ich damit meine. Tönt aber gut – und würde sich als Spruch gut machen auf einem Zuckerbeutel.

Haustiere

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 20. April 2019

«Papi, ich möchte sooo gerne ein Pferd», sagt die Grosse. «Viel zu teuer», sage ich. «Und ein Meerschweinchen?», fragt sie treuherzig. Raffiniertes Kind, denke ich. Aber so leicht lasse ich mich nicht um den Finger wickeln. «Ein Meerschweinchen allein ist einsam, da brauchst du mindestens zwei.» – «Juhui, wir kriegen zwei Meerschweinchen», jauchzt der Kleine. «Das kostet dann aber wieder fast so viel wie ein Pferd», sage ich. «Und dann kommt noch das Futter dazu.» Manchmal bin ich selber erstaunt, wie schamlos ich lüge, seit ich Kinder habe. «Dann doch lieber gleich ein Pferd», entscheidet die Grosse. «Ich schlachte auch mein Sparschwein dafür.»

Mist, das Geldargument zieht nicht. Zeit für die Moral. «Pferde sind ganz schlecht fürs Klima», doziere ich. «Habe ich neulich gelesen. Ein Pferd ist genauso schlimm wie 21 500 Kilometer Autofahren. Einmal um die halbe Welt.» – «Mit dem Pferd um die halbe Welt?» Die Grosse kriegt glänzende Augen. «Wir haben ja gar kein Auto», wirft der Kleine ein, «dann könnten wir doch stattdessen ein Pferd haben?» – «Wir bräuchten aber vier davon», gebe ich zu bedenken, «und dann noch eins fürs Gepäck.» Die Augen der Grossen glänzen noch mehr. «Dann wären wir bei über 100’000 Kilometer Autofahren», rechne ich vor, «dann könnten wir auch gleich fliegen.»

«Fliegen ist aber noch viel schlimmer als Autofahren, oder?», sagt der Kleine. «Schön, dass du das auch so siehst», sage ich, «dann sind wir uns ja einig, dass auch Vögel keine Option sind.» – «Nicht mal ganz kleine?», fragt der Kleine. «Auch keine Kurzwellensittiche.» – «Aber wenigstens Goldfische?» – «Silberfischchen, meinetwegen», lenke ich ein, «die sind so putzig.» – «Aber die kann man nicht mal streicheln», reklamiert die Grosse. «Wenn du schnell genug bist schon», entgegne ich.

«Wieso dürfen wir eigentlich kein Haustier, aber du hast einen Dino im Keller?», fragt der Kleine unvermittelt. «Einen Dinosaurier?» – «Ja», sagt der Kleine, «wir heizen doch mit Fossilien. Und Fossilien sind Saurier.» – «Erdöl meinst du? Ein fossiler Brennstoff, aber da sind keine Saurier drin, sondern Plankton und andere Meerestierchen, die zur Zeit der Dinos lebten», erkläre ich. «Aber du hast schon recht, eigentlich ein saublödes Haustier.»

«Dann schmeissen wir das Planktosaurier-Dingsbums raus und holen dafür zwei Meerschweinchen», sagt der Kleine. Und dagegen lässt sich nun wirklich nichts Vernünftiges einwenden. Ausser dass das Putzen des Käfigs wohl an meiner Frau und mir hängen bleibt. Aber das ist ja höchstens schlecht fürs Familienklima.

Ausgetickt

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 2. April 2019

Sonntagmorgen. Die Back­ofenuhr zeigt 09:00, obwohl im Radio schon die 10-Uhr-Nachrichten laufen. «Ich mach das», sage ich. Zweimal im Jahr nicht ein Knecht der Zeit zu sein, sondern ihr Herr, gibt mir ein gutes Gefühl.

«Soll ich die Anleitung raussuchen?», fragt meine Frau. «Wozu?», entgegne ich. «Ich habe eine naturwissenschaftliche Matura und ein abgeschlossenes Studium.» «Als Historiker», sagt sie. Höre ich da einen ironischen Unterton? «Wenn sich jemand mit Zeit auskennt, dann wohl ein Historiker», entgegne ich leicht verunsichert. «Und übrigens funktioniert das bei allen Geräten gleich: Die Uhrtaste drücken und das Stellrad nach rechts drehen.» Blöd nur, dass unser Backofen keine Uhrtaste hat. Und kein Stellrad. Blitzschnell gehe ich meine Möglichkeiten durch. Entweder bitte ich meine Frau, doch die Anleitung herauszusuchen. Oder ich tue, was ein Mann in solchen Situationen eben tut.

Aufs Geratewohl drücke ich ein paar Tasten. So ein Back­ofen ist schliesslich kein AKW. Wird ja nicht gleich Sirenenalarm geben. Plötzlich piept das Gerät fies drauflos. «Du hast den Timer erwischt», sagt meine Frau. 09:05. «Habs gleich.» 09:10. Noch immer fummle ich am Ofen rum. «Du weisst schon, wieso Moses 40  Tage durch die Wüste irrte?», fragt meine Frau. «Weil er nicht nach dem Weg gefragt hat», presse ich gestresst zwischen den Zähnen hervor. Feministische Witze helfen selten weiter, aber jetzt schon gar nicht. Dann schnappt die Ofentür ein und ein höllisches Dröhnen hebt an. Die automatische Selbstreinigung bei 300  Grad. Ich Unglückseliger habe die Tore zur Hölle geöffnet.

Schweiss steht mir auf der Stirne. Ich komme mir vor wie ein Bombenentschärfer. Den roten oder den grünen Draht durchschneiden? Im Film kneift der Experte jeweils die Augen zu und den richtigen Draht durch. In letzter Sekunde: 00:01.

Der Backofen zeigt aber noch immer 9:20 statt 10:20. Und es gibt keine Drähte, die ich durchschneiden könnte. Also explodiere ich. Aaahh, entfährt ein infernalischer Schrei meiner geschundenen Männerseele, und ich versuche mit blossen Händen das Display kleinzuschlagen. Ich bin zwar ein teilzeitarbeitender, kinderbetreuender, haushaltmachender Vollzeitmensch. Aber ganz gefeit gegen den Teufelskreis toxischer Männlichkeit aus Selbstüberschätzung und Gewalt bin auch ich nicht. Wenigstens nicht bei bockigen Backofenuhren. Als ich wieder zu mir komme, zeigt die Uhr 10:22. Bin ich wirklich eine Stunde lang ausgetickt?

Dann sehe ich, wie meine Frau die Anleitung zurück in den Schrank legt. «Du weisst ja jetzt, wo du sie findest», sagt sie zärtlich. «Fürs nächste Mal.»



Scherzinsuffizienz

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 6. März 2019

«Herr Doktor, ich habs mit dem Scherzen.»

«Scherzrasen? Scherzklopfen? Scherzflimmern?»

«Nein, mir fallen keine guten Pointen mehr ein.»

«Kein Grund zur Sorge, das ist in Ihrem Alter ganz normal.»

«Ganz normal?»

«Scherzkreislaufprobleme. Ich verschreib Ihnen ein paar Scherztropfen, die bringen Ihren Scherz wieder in Schwung.»

«Aber mein Scherz hat von einem Moment auf den anderen einfach ausgesetzt. Total beängstigend.»

«Akutes Scherzversagen? Damit ist allerdings nicht zu spassen.»

«Sie meinen?»

«Scherzinfarkt. Schlimmstenfalls. Dann ist fertig lustig.»

«Fertig lustig ist doch jetzt schon.»

«Waren Sie als Kind denn lustig?»

«Eher nicht.»

«Dann könnte es auch ein angeborener Scherzfehler sein. Gibt es ähnliche Fälle in Ihrer Familie?»

«Nein, die sind alle witzig.»

«Das ist komisch.»

«Was ist daran denn lustig?»

«Vielleicht brauchen Sie einen Scherzschrittmacher.»

«Eine Operation am offenen Scherzen?»

«Wenn es ganz schlimm steht, sogar eine Scherztransplantation.»

«Sie scherzen wohl.»

«Keine Angst, ich bin erfahrener Scherzchirurg. Voraussetzung ist natürlich, dass wir einen Spenderscherz finden, der zu Ihrem Humor passt. Mal schauen, Peach Weber wäre bereit zu spenden.»

«Peach Weber? Gägsgüsi, aber das ist doch nicht mein Niveau.»

«Nicht Ihr Niveau? Der Turnhallenboden von Wünnewil hat mehr Niveau als Sie. Und der hat Löcher drin. Ganz ehrlich, Ihr Scherz macht es nicht mehr lange. Völlig überstrapaziert und ausgelaugt. Ich diagnostiziere fortgeschrittene Scherzinsuffizienz. Wahrscheinlich bringen Sie nicht einmal mehr diese Kolumne in Würde zu Ende. So schwach ist Ihr Scherz.»

«Aber das stimmt doch gar nicht.»

«Jetzt halten Sie mal Ihre Scherzklappe. Sie haben ja schon alle Herzscherze durch. Oder fällt Ihnen noch einer ein, Sie Scherzpatient?»

«Das wollt ich grad sagen.»

«Eben.»

«Und eine Pointe mit Lachgas hätte ich noch.»

«Ein lahmer Scherz.»

«Sag ich doch die ganze Zeit, dass das mein Problem ist.»

«Wissen Sie was, vielleicht sollten sie sich die Kugel geben.»

«Mich umbringen?»

«Nicht Selbstmord, Sie Scherzkeks, Globuli.»

«Homöopathie? Aber das ist doch ein Witz.»

«Sehen Sie, jetzt klappt es mit den Pointen ja schon wieder besser.»

Nur eine tote Birke

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 27. Februar 2019

Allergikerinfo: Dieser Text enthält eine übermässige Konzentration des Wortes Birke.

Birkenholz. Ich liebe Birkenholz. Sie nicht auch? Ich bin keine Konifere auf dem Gebiet, aber die Birke ist ja die Buche unter den Fichten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Dieser seidige Glanz. Die feine Maserung. Ich schlafe in einem Bett aus Birkenholz, selbst gezimmert – und jeder Splitter, den ich mir eingefangen habe, war es wert.

Mein Nachttischchen ist aus Birkenholz, der Kleiderschrank sowieso. Dieser seidige Glanz. Dieses Spiel von Hell und Dunkel. Zur Entspannung zersäge ich Birkensperrholz mit meiner Laubsäge in immer kleinere Teile. Jetzt lass ich mir ein Parkett verlegen aus Birkenholz. Total unpraktisch, viel zu weich. Spätestens nach zwei Jahren sei das durch, sagte mein Parkettmann ungläubig, als ich ihn danach fragte. Aber genau deshalb will ich ja Birkenholzparkett. Und zwar nicht nur in der Stube, nein, auch im Gang, in der Küche, im Keller, im Bad, auf der Terrasse. Sogar auf der Zufahrtsstrasse lasse ich Birkenparkett verlegen. Und das Birkentäfer an den Wänden muss zuschauen, wenn ich das Birkenholzparkett mit Nagelschuhen trete. Denn in meinem Haus herrscht Birkenstockverbot.

Wenn ich könnte, ich ässe Birkenholz zum Frühstück. Zum Znüni. Zum Zmittag. Und Birkenrinde zum Znacht. Und selbstverständlich lodert in meinem Cheminée von Oktober bis September ein Feuer, das niemals ausgeht. Und was verbrenne ich dort? Genau. Birkenholz. Ster um Ster.

Denn nur eine tote Birke ist eine gute Birke.

Wenn ich nämlich etwas ha-ha-ha-ha-hatschi!, Tschuldigung. Wenn ich etwas hasse, dann sind es Bi-Bi-Bi-Bi-hatschi, Birkenpollen! Nur schon beim Gedanken, dass es bald wieder losgeht, läuft meine Nase. Grundsätzlich habe ich ja nichts gegen Birken, schöne Bäume. Wenn nur der Pollenflug nicht wäre. Muss es denn unbedingt Windbestäubung sein? Es ist doch nicht ehrenrührig, sich von Bienen bedienen und von Hummeln befummeln zu lassen. Oder ist sich die Birke zu fein für Blümchensex?

Ich habe die Nase voll. Aber so was von.

Hatschi! Schon wieder eine Packung Taschentücher durch. Aber vielleicht ist das ja die Lösung. Eine Papiertaschentuch-Fabrik gründen, die im grossen Stil Papiertaschentücher herstellt aus 100 Prozent frisch gefälltem Birkenholz aus garantiert nachhaltigem Raubbau. Und dann einfach wegschnäuzen, die Drecksbotanik. Baum um Baum. Befreit aufschnaufen, wenn die letzte Birke gefällt ist. Und das Abschiedstränchen wegputzen mit einem Taschentuch aus Birkenfasern.

Dann kümmere ich mich um die Gräser; noch so Kollegen, die keine Insekten ranlassen, diese Mimosen. Vielleicht kann man die ja wegrauchen?

Hatschi!

Würzige Heimat

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 12. Januar 2019

Dank der SVP wissen wir endlich, was Heimat ist. Nämlich: «Das, was wir vermissen, wenn wir auswärts sind. Den Schweizer Dialekt, die Musik, das frische Trinkwasser, knuspriges Brot, den Cervelat, ja sogar das Aromat.» Das sei Heimat. So steht es im brandneuen Parteiprogramm der SVP. Gut, ein paar Unschärfen hat die Heimat­definition der selbst ernannten Volkspartei zwar schon. So gibt es etwa meines Wissens keinen Schweizer Dialekt, sondern ein paar Hundert Dialekte. Gluten-Opfer denken bei knusprigem Brot ganz spontan wohl eher an Hölle als an Heimat. Und was ist mit Vegetariern, die keine Cervelats essen? Sind das heimatlose Gesellen?

Vor allem aber fehlt in der Aufzählung ganz entschieden das DüDaDo des Postautos, gopfertammisiechnomoll. Das ist für mich Heimat. Und dass einem das Postauto noch in den hintersten Chrachen bringt, das ist für mich auch Heimat. Unbedingt nachbessern, liebe Frauen und Mannen von der SVP, sonst wähle ich Euch im Herbst noch weniger als sonst schon.

Aromat als Metapher für Heimat hingegen finde ich grossartig. Denn wer hats erfunden? Ein Schweizer, das stimmt. Aber wem gehörts? Dem multinationalen Konsumgüterkonzern Uni­lever (hör ich da Ausverkauf der Heimat? Und braucht die Schweiz eigentlich einen Sitz im Unilever-Sicherheitsrat, oder nicht?).

Und was steckt denn drin, in der würzigen Heimat, waseliwas? Bodenständige Zwiebeln und allergene Selleriesamen, dazu Nelken (Zuwanderer aus Sansibar), Curcuma (wächst die eigentlich auf hiesigem Mist?), Lorbeer (übers Mittelmeer gekommen) und eine binationale Mariage von Palm- und Sonnenblumenöl (quasi Ehe für Öle, also, Ehe für alle, äh, ist ja auch egal, Haupt­sache, es flutscht).

Als Völker verbindendes Element darf natürlich der Geschmacksverstärker Glutamat nicht fehlen; das macht das Essen auch beim Chinesen so lecker. Und, jetzt ganz stark sein, liebe Verteidiger des christlichen Abendlandes: Ich glaube fast, Aromat ist sogar halal.

Kurz: Das würzige Streupulver ist ein bunter Mix aus Hiesigem und nicht ganz so Hiesigem – Multikulti im Gewürzdöschen, sozusagen. Das also ist für die SVP Heimat. Hätte nicht gedacht, dass ihr das schmeckt. Ich streu mir davon aber gerne etwas auf mein knuspriges Cervelatbrot, dazu ein Glas frisches Trinkwasser und etwas Lüpfiges von Müslüm. Sie wissen schon, das ist dieser Musiker mit dem Schweizer Dialekt.

In diesem Sinn: DüDaDo.

Migrationsmissverständnis

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 29. Dezember 2018

«Schon eindrücklich, diese Migrationsströme. Millionen sind Jahr für Jahr unterwegs. Auf fixen Routen. Tausende von Kilometern legen die zurück. Übers offene Meer, durch die Wüste, unwirtliche Gebirge. Stell dir mal die Strapazen vor. Die sind total entkräftet, wenn sie ankommen. Wenn sie überhaupt ankommen.»

«Jetzt übertreib mal nicht.»

«Doch. Viele schaffen es gar nicht. Das weiss man. Die bleiben auf der Strecke. Und trotzdem ziehen sie immer wieder aus Neue los.»

«Sollten halt gar nicht erst weggehen. Meine Meinung. Wird man ja wohl noch sagen dürfen.»

«Die können nicht anders. Die müssen einfach weg. Das ist genetisch bedingt. Die haben sonst keine Lebensgrundlage.»

«Migration ist genetisch bedingt? Was ist das denn für ein Quatsch?»

«Natürlich, die würden verhungern, wenn die nicht wegziehen würden. Das sind Hungerflüchtlinge.»

«Hungerflüchtlinge? Das glaubst du doch selber nicht. Weisst du, was das Problem ist? Es werden immer mehr. Und wenn sie mal da sind, bleiben sie auch. So siehts doch aus.»

«Nein, die gehen wieder zurück. Sobald sie in ihrer Heimat wieder überleben können.»

«Nein, die bleiben.»

«Nein, die gehen zurück. Du hast aber auch wirklich gar keine Ahnung. Hast du in der Biologie nicht aufgepasst?»

«Jetzt hör aber auf. Natürlich habe ich eine Ahnung. Und eine Meinung. Weisst du, was mich stört? Vielen Einheimischen gehts auch schlecht, aber das ist bei euch Gutmenschen ja kein Thema.»

«Jetzt übertreibst aber du. Natürlich haben es die Einheimischen auch hart. Grad im Winter. Darum helfe ich denen auch. Braucht ja nicht viel. Ein bisschen was zum Knabbern. Was die für eine Freude dran haben, das sage ich dir.»

«Wie bitte?»

«Gut, die machen schon auch Dreck. Aber dafür ist es für die Kinder total schön, wenn sie zuschauen können. Ein richtiges Spektakel, wenn die zur Fütterung auf die Terrasse kommen. Da hat es ja immer auch ein paar ganz Freche drunter. Die zanken sich richtig um ihre Nahrung. So ein Spass.»

«Sag mal, bei dir piept es wohl? Erst machst du einen auf Gutmensch und dann redest du so abschätzig daher.»

«Was heisst abschätzig? Hast du noch nie den Spatzen zugeschaut, wenn die sich am Vogelhäuschen gestritten haben?»

«Wieso redest du jetzt plötzlich von Vögeln?»

«Ich rede doch schon die ganze Zeit von Vögeln. Zugvögeln. Was hast du denn gedacht?»