Jugendsünde

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 8. März 2016

«Ich bin immer noch baff, dass du so was gemacht hast», sage ich und schaue meine Frau ungläubig an. «Ich war jung, und ich brauchte das Geld», sagt sie.

«Trotzdem», entgegne ich.

«Das haben doch viele gemacht. War eben ganz praktisch als Studentin, um abends noch was dazuzuverdienen.»

«Und wieso hast du mir nie etwas davon erzählt?»

«Waren ja nur drei Monate. Bis ich was Anständiges gefunden hatte.»

«Und wie viele hast du denn so gehabt, pro Abend?», frage ich beiläufig.

«Das interessiert dich jetzt natürlich wieder.»

«Ich frag ja nur.»

«Wir hatten im Team einen Wettbewerb am Laufen, wer am meisten Nummern schafft pro Schicht. Aber das kam natürlich ganz drauf an. Mit den Jungen ging es immer gleich zur Sache. Keine fünf Minuten, da war es auch schon durch.»

«So schnell?»

«Ja, aber mit den Alten dauerte es ewig. Die wollten immer reden, reden, reden.»

«Das macht die ganze Sache ja immerhin etwas menschlicher», sage ich.

«Ist aber schlecht fürs Geschäft. Darum hat sich die Chefin eingeschaltet, wenn es zu lange dauerte.»

«Die Chefin?»

«Die hat mitgehört. Und nach 15 Minuten hat sie dich sanft dazu gebracht, die Sache abzuklemmen.»

«Das ist ja abartig.»

«So läuft das Business.»

«Also ich hätte das nicht gekonnt, mit wildfremden Menschen. Da wäre ich viel zu gehemmt gewesen.»

«Das machte ja den Reiz aus. Gut, am Anfang brauchte das schon ein bisschen Überwindung, aber wenn ich heute als Lehrerin vor einer Klasse stehe, kommt mir zugute, was ich damals gelernt habe.»

«Und wie ging das denn so?»

«Streng nach Protokoll.»

«Da gibts ein Protokoll?»

«Klar, aber du musstest dich natürlich auch in dein Gegenüber einfühlen können. Die waren ja häufig nicht in Stimmung und sagten erst mal Nein. Aber du hast bald gemerkt, dass die eigentlich gar nicht Nein meinten.»

«Echt?»

«Dann hast du sie ein bisschen bearbeitet, ein bisschen gebohrt, und schon gings.»

«Das wäre nichts für mich gewesen.»

«Hast du eine Ahnung. Deine Stimme klingt sexy. Das ist schon die halbe Miete. Wir hatten mal eine St. Gallerin. Die lispelte auch noch. Die blieb keine zwei Wochen. Mit der wollte keiner.»

«Und dir, ging dir das Ganze nie gegen den Strich?»

«Im Lebenslauf würde ich das jetzt nicht unbedingt aufführen, aber was hätte ich denn tun sollen? Zum Kellnern fehlte mir einfach das Talent.»

«Schon. Aber Telefonmarketing? Das ist nun wirklich das Allerletzte.»

Spannend

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 3. März 2016

Gutmensch ist das Unwort des Jahres. Sicher eine begründete Wahl, aber ich hab ein ganz anderes Wort auf der Latte: spannend. Das breitet sich aus wie der Kotzkäfer im Kinderlager nach einem verdorbenen Schoggimousse. Früher war höchstens der Dienstagabend-Krimi spannend – zumindest manchmal. Heute ist plötzlich alles spannend: die Gespräche, das Essen, sogar der Sex. Dabei ist «spannend» ein Feigling und ein falsches Luder. Denn meistens meinen wir etwas ganz anderes, wenn wir das Wort in den Mund nehmen.

Da ist man zum Beispiel aus Versehen in einer Vorführung zeitgenössischer Experimentalmusik gelandet, auf der Bühne traktiert ein Mann ein verstimmtes Klavier mit einem Elektroschocker, während in einer Endlosschlaufe das Röhren brünstiger Hirsche im Fünf-Achtel-Takt ertönt. In der Pause fragt man die Sitznachbarin aus purer Höflichkeit, wie es ihr denn so gefalle. Sie schaut einen entgeistert an und meint dann: «Spannend, nicht wahr?» Man selber ist sich nicht zu blöde, zu antworten: «Ja, ganz interessant. Mal was anderes.» Und dann geht man gemeinsam zur Bar, kippt ein Cüpli hinter die Binde und hofft, dass die Hirsche im zweiten Teil ihre Lust befriedigt haben.

Was man wirklich hätte sagen wollen ist: «Nennen Sie mich einen Banausen, aber ich finde es unerträglich.» Und die Sitznachbarin hätte geantwortet: «Ich mag Mozart lieber, der konnte wenigstens noch Melodien schreiben.» Aber man getraut sich nicht, ehrlich zu sein, weil man sich keine Blösse geben will. Der andere könnte ja was von moderner Musik verstehen. Oder mit dem Klavier-Schänder verheiratet sein.

Neulich fragte mich ein Kollege, was ich denn vom drohenden Brexit halte. Und wissen Sie, was ich blitzschnell geantwortet habe? «Das wird auf jeden Fall spannend.» Aus purer Verlegenheit, weil mir partout kein gescheiter Exkurs zur institutionellen Weiterentwicklung der EU im 21. Jahrhundert einfallen wollte.

Oder wie oft hat Ihr Chef einen Ihrer Vorschläge schon quittiert mit «spannend, interessant»? Und was ist dann daraus geworden? Nichts. Eben.

«Spannend» ist ein Unwort, das wir aus reiner Verlegenheit benutzen und hinter dem wir alles Mögliche verstecken: Unsere Ignoranz, unsere Abneigung, unser Desinteresse. Wir halten es für höflich, «spannend» zu sagen, statt Quatsch. Aber dadurch verliert das Wort jeden Wert – und darum verbanne ich es ab sofort aus meinem Sprachgebrauch. Wenn mir was nicht gefällt, sage ich das. Wenn ich was nicht verstehe, stehe ich zu meiner Unwissenheit. Und wenn ich zu etwas keine Meinung hab, schweig ich halt.

Mal sehen, wohin das führt.

Ich glaube, das wird ziemlich spannend.

Datumsgläubigkeit

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 27. Februar 2016

Viele glauben heutzutage nicht mehr an den lieben Gott, sie glauben an das Ablaufdatum. Das gibt ihnen Halt und Sicherheit in Zeiten wie unseren, wo alle anderen Gewissheiten flöten gegangen zu sein scheinen. «Ich will die Kühlkette achten und ehren und kein Lebensmittel verzehren, das seine von der Industrie bewusst viel zu kurz bemessene Haltbarkeit überschritten hat», so lautet ihr Credo. Und ihr Abfalleimer nimmt mehr Kalorien zu sich als sie selber.

Nichts gegen das Haltbarkeitsdatum. Das kann ja durchaus ein brauchbarer Anhaltspunkt sein, wenn man beim Aufräumen im hintersten Winkel des Vorratsschrankes eine Büchse Herzkirschen entdeckt und entscheiden muss: Noch auf den Tisch damit oder gleich ab ins Museum?

Nun hat ein Erfinder einen sogenannten Foodsniffer auf den Markt gebracht. Eine elektronische Schnüffelnase, die anhand der Ausdünstungen von Fleisch, Fisch und Meeresfrüchten erkennt, ob das Stück totes Tier noch tot ist oder schon wieder zu leben beginnt. Quasi ein Gadget für Datums-Agnostiker, die zwar nicht glauben, dass ein Verfallsdatum sakrosankt ist, aber trotzdem nicht genug Vertrauen in Gott und ihre Darmflora haben, um die abgelaufenen Muscheln einfach so zu essen.

Schon toll, was der Mensch so alles erfindet. Oder? Aber auch irgendwie total überflüssig. Denn der Mensch wird ja serienmässig mit einem Foodsniffer ausgeliefert–und der funktioniert bei allen Lebensmitteln. Zum Beispiel beim Joghurt.

Wenn ich mir etwa Ende Februar das Apfelstrudel-Joghurt aus dem Kühlschrank klaube, das ich im November gekauft habe, scanne ich erst mit meinen zwei optischen Hochleistungssensoren erst einmal das Datum. Sie wissen schon, zur Entscheidungsfindung «Magen oder Museum?». Mein Prozessor ist so programmiert, dass er weiss: zwei Monate übers Datum, das heisst noch gar nichts.

Also weiter. Nach dem Öffnen sind wieder die optischen Sensoren gefragt. In Sekundenschnelle checken sie, ob es schimmelt, gärt oder von Tierchen wimmelt. Dann analysiert der ausgeprägte Geruchssensor die eingesaugten Duftmoleküle: Mischt sich unter den Apfel-Zimt-Duft eine leichte Fäulnisnote? Danach fahre ich meinen eingebauten Probeentnahmefinger aus, tunke ihn ins Joghurt und führe ihn zum Mund, wo gleich die Geschmacksknospen das komplexe Geschmackserlebnis aufschlüsseln und alsbald die beruhigende Botschaft ans Grosshirn senden: «Schmeckt süss, nicht sauer. Rein damit!»

Das alles dauert keine zehn Sekunden und braucht keine Batterien.

Und falls ich mal doch unsicher bin, reiche ich das Joghurt einfach meiner Frau weiter. Die hat die bessere Nase.

Und den stärkeren Magen.

Schlangenfrass

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 24. Februar 2016

Es gibt Schlangen, die sind nach einer Mahlzeit drei Jahre lang pappsatt. Das habe ich im Bus gelernt. Denn Busse sind heute ja auch Fernseher. In einer Endlosschlaufe flimmern dort News von vorgestern, das Wetter von morgen und Werbespots über die aufgehängten Bildschirme. Dazwischen gibt es kleine Wissenshäppchen und Zitate von Einstein und Gandhi. Und ich schau hin. Ich kann nicht anders als starren. Wahrscheinlich ein Urmenschenreflex. Wenn sich was bewegt im Gebüsch, guckt man hin. Es könnte ja ein Mammut aus dem Unterholz brechen oder ein Säbelzahntiger.

Die Bildschirme haben eine hypnotische Wirkung: Neben dem Bus könnte eine Herde von rosa Elefanten vorbeitrampeln, ich bekäme es erst am nächsten Tag mit – als Schlagzeile im Bus-TV. Und diese Bildschirme sind überall: im Bus, am Bahnhof, in der Post, in der Migros.

Und ich guck hin. Es müssen nicht einmal Bildschirme sein. Ständig bin ich auf Empfang. Ich kann an keinem Plakat vorbeigehen, ohne es zumindest aus den Augenwinkeln zu scannen. Werbeaufdrucke auf vorbeifahrenden Lastwagen, Sprüche auf T-Shirts, die Kioskaushänge – ich lese alles. Sogar das Kleingedruckte auf der Kakaopackung – in allen Sprachen. Ich kann kein Italienisch, aber «Versare del latte freddo o caldo in una tazza, aggiungere 2 o 3 cucchiaini da caffé colmi di Banago, mescolare bene et gustare» kann ich auswendig. Verrückt, oder? Und wozu?

Wahrscheinlich ist es die Angst, etwas Wichtiges zu verpassen. Also guckt man hin und liest. Dabei ist es nie ein Mammut oder ein Säbelzahntiger, sondern meist einfach nur Informationsmüll, der laut um Aufmerksamkeit schreit.

Ich nehme nie Zucker in den Kaffee, aber den Zuckerbeutel studiere ich bis auf den letzten Buchstaben. Aus Prinzip. Einfach, weil etwas draufsteht. Übrigens: Haben Sie gewusst, dass 89 Prozent der Leute glauben, was auf Zuckerbeuteln steht? Das haben schwedische Forscher herausgefunden. Habe ich irgendwo gelesen. Oder nehmen 89 Prozent der schwedischen Forscher Zucker in den Kaffee? Ich weiss es nicht mehr. Und genau das ist das Problem. Zwar rauscht nonstop eine riesige Informationsflut durch meine Hirnwindungen, aber nichts davon bleibt hängen; schlimmer noch, ich habe das Gefühl, alles, was mal abgespeichert war, wird mit fortgespült. Früher konnte ich Schillers «Glocke» auswendig. Heute ist nur noch die SMS-Version da: «Loch in Erde, Bronze drin, Glocke fertig, bim bim bim.»

Manchmal wünschte ich mir echt, ich wäre eine Schlange. Dann verschlänge ich ein gutes Buch und würde es drei Jahre lang verdauen. Und das Gelesene nie mehr vergessen.

Aus Ländern raus

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 16. Februar 2016

«Papi, was sind eigentlich Ausländer?»

«Die sind aus Ländern. Also, die lebten in Ländern. Als Inländer. Und dann gingen sie aus Ländern raus. Und jetzt leben sie als Ausländer in Ländern, wo viele Inländer sagen: Ausländer raus.»

«Sind das dann Raus-Länder?»

«Das hätten viele gerne.»

«Gibt es denn auch Rein-Länder?»

«Ja, aber nur im Ausland.»

«Papi, woraus besteht eigentlich die Welt?»

«Aus Land. Aus Meer. Aus Ländern.»

«Mehr Ausländern?»

«Nein, mehr aus Meer als aus Ländern.»

«Papi, fliehen wir im Sommer auch wieder ans Meer?»

«Wir fliehen doch nicht. Wir fahren ans Meer, um dem Alltag zu entfliehen.»

«Und die Ausländer?»

«Die fliehen übers Meer, um einen Alltag zu finden.»

«Und wenn ganz viele kommen, werden wir dann zum Eng-Land?»

«Kommt drauf an, wie weitherzig wir sind.»

«Papi, was ist ein Ländler?»

«Volksmusik.»

«Und eine Polka? Und ein Schottisch?»

«Auch.»

«Die tönen aber eher wie Ausländler.»

«Die wurden eingebürgert. Ohne sie wäre es nur halb so lüpfig.»

«Papi, was ist eigentlich das Volk?»

«Das, was Recht hat. Ich meine, das was Rechte hat. Also Menschen mit Rechten in Ländern.»

«Und Menschen aus Ländern?»

«Die haben auch Rechte. Menschenrechte. Aber nur, wenn es dem Volk Recht ist. Sagen die rechten Inländer. Dabei kommt Völkerrecht vor Volkswillen. Zumindest im Duden. Aber was erzähl ich da eigentlich? Du machst mich noch ganz konfus mit deiner Fragerei. Sag doch mal, was habt ihr denn heute in der Schule gemacht?»

«Ein Länderspiel.»

«Ein Länderspiel?»

«Ja, Völkerball.»

«Und wie war’s?»

«Wir haben uns durchgesetzt. Aber jetzt bin ich geschafft.»

Durchs Wurmloch

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 27. Januar 2016

Es gibt Parallel-Universen da draussen. Exotische Welten voller Wunder, unbekannter Lebensformen und fremder Bräuche. Und man muss nicht durch ein intergalaktisches Wurmloch schlüpfen, um sie zu erforschen. Ein Besuch in einem halbwegs gut sortierten Bahnhofskiosk reicht. Dort liegen die Schlüssel zu fernen Galaxien im Zeitschriftenregal. Zum Beispiel «Petri Heil», die Schweizer Fischerei-Fachzeitschrift.

Mit Angeln habe ich nichts am Fischerhut. Aber zwischendurch ein «Petri Heil» möchte ich nicht mehr missen. Angebissen habe ich auf der Melchsee-Frutt, im Sommer 2013. Wir wollten spazieren, Sonne, Berge – und bekamen Regen, Regen, Regen. Es goss wie aus Fischerkübeln. Was blieb uns da anderes übrig, als zu lesen. Und überall lag das Fischer-Heftli auf. Denn die Frutt ist ein Paradies für Petrijünger. Jahr für Jahr werden Tausende von Forellen, Saiblingen und Elritzen in die Höhe gekarrt und in die drei Bergseen entlassen, damit Fischer sie rausziehen und wieder ins Tal bringen können.

Item. Ich begann zu blättern – und blieb hängen. Denn mir tat sich eine neue Welt auf. Nicht nur lernte ich, dass die kanadische Seeforelle den schönen Namen Naymacush trägt und Kenner von der Bachforelle liebevoll als Fario sprechen. Mir blieb auch der Mund offen stehen wie einem Karpfen angesichts der Angelausrüstung. Von wegen Rute, Haken, Wurm. Da gab es Wobbler, Winkelpicker, Pilker und Popper und ein Gerät mit dem wunderschönen Namen Pfuris Tiefseeunterwasserhund-Schleikgarnitur – ein Gedicht.

Am meisten gefesselt hat mich allerdings eine dramatische Geschichte, wie sie nur die Natur erzählen (und «Petri Heil» berichten) kann: Duri Caviezels Kampf gegen die superkapitale Bachforelle vom Inn. Vor Jahren schon hatte Duri aus Ramosch den Riesenfisch erspäht. Aber keiner wollte ihm glauben. Für Duri wurde die Fario zur Obsession. Tennisballgrosse Köder begann er zu knüpfen. Denn ein normaler Köder würde «Moby Dick» – bilde ich mir das ein, oder nannte er sie wirklich so? – nicht aus dem Versteck locken. Seine Kollegen lachten ihn aus. Aber Duri («Ich muss dich kriegen, Moby Dick!») verzagte nicht. Und endlich biss die Fario an. In einem epischen Kampf zog Duri den Fisch an Land. 95 Zentimeter lang, 12,5 Kilogramm schwer – die grösste je mit Rute und Rolle gefangene Bachforelle in der Schweiz.

Das fand ich grosses Kino. Und seither, wenn mir meine Existenz zwischendurch fad und wässrig vorkommt, kaufe ich ein «Petri Heil» und stelle mir vor, wie ich mit Pfuris Tiefseeunterwasserhund-Schleikgarnitur auf Jagd nach Monster-Hechten gehe.

Und alles kommt wieder ins Lot.

Das Wort zum Freitag

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 22. Januar 2016

Politiker bemühen gerne die christlichen Werte. Sie tun dies mit Vorliebe dann, wenn sie anderen etwas verbieten wollen: den Musliminnen das Kopftuch, den Moscheen das Minarett, den Homosexuellen das Heiraten und irgendwann wohl homosexuellen Muslimen das Adoptieren verschleierter Kinder.

Die werten Christenpolitiker, pardon, christlichen Wertepolitiker vermeiden es dabei in der Regel tunlichst, zu erklären, was christliche Werte sind. Denn ihnen geht’s nicht um Theologie, sondern darum, eine scharfe Grenze zu ziehen. Eine Grenze zwischen «Uns» und «den Anderen». Und je vager der Begriff, desto besser funktioniert das.

Müssten die Politiker konkret werden, sie gerieten in Teufels Küche. Denn was macht die christlichen Werte aus? Ist es die radikale, aller Konventionen spottende Nächstenliebe Jesu, der die Ausgestossenen, Schwachen und Verfolgten an seinen Tisch bat und die Pharisäer links liegen liess? Die sinnliche Lebensfreude des Gottessohns, der sich von einer Prostituierten mit teurem Öl die Füsse massieren liess und ein Wunder wirkte, wo das Hochzeitscatering versagte? Oder meinen die Politiker damit die westlichen Werte, also Freiheit, Gleichheit, Toleranz–jene Werte also, die die katholische Kirche jahrzehntelang als Teufelszeug bekämpfte?

Sie sehen, es ist kompliziert.

Die Bibel hilft in diesem Fall nicht weiter. Denn die ist ein ideologisches Selbstbedienungsbüfett–für jeden Geschmack hat’s was. Der Pazifist findet darin genauso eine Abrüstungsanleitung («Schwerter zu Pflugscharen», Buch Micha 4, 1–4) wie der Kriegstreiber eine Rechtfertigung für den militärischen Vergeltungsschlag («Auge um Auge, Zahn um Zahn», 2. Mose, 21, 24). Antisemiten, Homophobe, Befreiungstheologen, Feministinnen und Frauenhasser können sich mit Bibelworten gleichermassen aufmunitionieren.

Zum Glück gibt es ein anderes Grundlagenwerk, auf das sich die Wertedebatte in der Politik beziehen kann. Zugegeben, im Vergleich mit der Bibel ist dieses Werk ein Benjamin, grade mal 168 Jahre alt, ein dünnes Büchlein obendrein. Die Wucht und Poesie der biblischen Sprache geht ihm völlig ab, zudem wird es laufend umgeschrieben, manche zweifelhafte Passage ist in den letzten Jahren reingeflickt worden–und doch stehen darin bemerkenswerte Sätze: «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen» (Art. 7), «Niemand darf diskriminiert werden» (Art. 8) oder «Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist gewährleistet» (Art. 15). Es ist–die Bundesverfassung.

Und dazu fällt mir, ganz klugscheisserisch, sogar das passende Bibelzitat ein: «Wer Ohren hat zu hören, der höre!» (Matthäus, 11,15)

Und Josef?

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 24. Dezember 2015

Das Kind liegt selig in der Krippe auf Stroh, Maria sitzt daneben und lächelt froh. Ein Strahlen geht von den beiden aus. Und Josef? Josef verscheucht die Fliegen, die das Gesichtchen des Kleinen umschwirren, und verstopft die Ritzen im Stall notdürftig mit Lappen und Stroh, damit das Pfeifen des kalten Nachtwinds das Kind nicht weckt. Und seiner Frau legt erden Mantel enger um die Schultern.

Als die Hirten kommen, um das Kind zu sehen, ermahnt sie Josef, leise zu sein, das Kind schlafe. Und nachher bietet er ihnen Wasser an und Datteln und plaudert mit ihnen noch ein Weilchen über Schafe und Kaiser Augustus und wer dümmer sei.

Als die Könige kommen, um das Kind zu sehen, getraut sich Josef nicht, etwas zu sagen. Er ärgert sich still, als sie den Kleinen aufwecken. Und Maria braucht doch auch Ruhe, die Reise und die Geburt haben sie erschöpft. Nachher bietet er ihnen Wasser und Oliven an, mehr hat er nicht, und als die drei Weisen zu plaudern beginnen, nickt er nur, denn er versteht nichts vom Lauf der Gestirne und vom Regieren. Die Hirten waren ihm lieber.

Und überhaupt ist ihm ganz sturm vom ganzen Rummel um das Kind.

Sein Kind?

Er macht Feuer und kocht Hirsebrei für seine Frau und wäscht die dreckigen Windeln am Brunnen mit kaltem Wasser aus, auch wenn die anderen Frauen ihm dabei mitleidige Blicke zuwerfen. Und er füttert den Esel und er putzt den Mist des Ochsen weg, damit es nicht gar so stinkt.

Und des Nachts, wenn Maria weint vor Erschöpfung und weil die Brustwarzen schmerzen und der Kleine nicht richtig trinkt und nur quengelt, dann küsst Josef seine Frau in den Schlaf und nimmt das Baby auf den Arm. Stundenlang trägt er es im Stall herum, wiegt es leise, singt ihm Lieder vor, immer und immer wieder, massiert ihm sein geblähtes Bäuchlein, freut sich über jedes Fürzchen, das dem Kleinen Erleichterung verschafft, und wechselt klaglos die Windeln.

Zwischendurch denkt er, wie es nun wohl weitergeht mit Maria und ihm und dem Kind, und ob sein Verdienst als Zimmermann ausreicht, und was aus dem Kleinen mal werden wird.

So vergeht die Nacht. Er wiegt und trägt das Kind und kitzelt es mit seinem Bart an den Füsschen. Er schaut in seine kleinen Äuglein und erkennt darin sich selbst. Und lässt es dann nuckeln an seinem kleinen Finger, bis es – endlich – einschläft.

Wie Josef sie so sieht, Maria, das Kind, seine Familie, die ihm heilig ist, da lächelt er und schläft ein.

Seinen Sohn im Arm.

2042

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 19. Dezember 2015

Beim Aufräumen bin ich auf meinen Pensionskassenausweis gestossen. Ein Dokument von erschreckender Trostlosigkeit. Darauf steht die Zahl 2042. Tönt wie der Titel einer coolen Science-Fiction-Serie («2042 – Sie sind mitten unter uns»), ist aber, ganz langweilig, das Jahr meiner ordentlichen Pensionierung. Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte. Schon? Erst? Aber wahrscheinlich verschiebt sich das sowieso noch nach hinten, also nicht zu lange drüber nachdenken. Nachdenklich machte mich hingegen die fett gedruckte Zahl, die meine Altersrente angibt. Die ist zwar etwas höher als das Jahr meiner Pensionierung, aber immer noch so klein, dass ich dachte, das wird kein schöner Lebensabend werden.

Unverzüglich begann ich deshalb, Strategien zu entwickeln, um meine Lebenserwartung mit meiner Altersrente in Einklang zu bringen.

1. Ich investiere möglichst viel Zeit, Geld und Ausdauer in die Ausbildung meiner Kinder (am besten Jus, Wirtschaft oder etwas, das Google dann aufkauft). Dann kriegen sie einen tollen Job und verdienen so viel Kohle, dass sie aus lauter Dankbarkeit meine Pflegeheimrechnung bezahlen. Aber auf Dankbarkeit zu bauen ist ein unsicherer Vorsorgeplan.

2. Also investiere ich vielleicht doch lieber möglichst wenig Zeit, Geld und Ausdauer in die Ausbildung meiner Kinder. Dann haben sie zwar keinen Job, aber dafür Zeit, sich um mich zu kümmern. Wobei, das wäre ziemlich unfair meinen Kindern gegenüber. Und wer weiss, welche Grausamkeiten sie sich im Gegenzug für mich ausdenken würden.

3.Vielleicht doch eine Mitgliedschaft bei Exit? Wobei, das kostet ja auch. Und ein Verein, dessen einziger Zweck es ist, seine Mitglieder wieder loszuwerden, ist irgendwie abartig.

4. Dann beginne ich halt zu rauchen. Das senkt die Lebenserwartung und füllt die AHV-Kassen. Davon habe ich nichts, sagen Sie? Stimmt. Und rauchen ist sowieso Mist.

5.Also halt mehr arbeiten. Möglichst sechs Tage die Woche und 16 Stunden am Tag. Dann habe ich im Alter finanziell ausgesorgt – aber niemanden mehr, der sich um mich sorgt. Denn wenn ich vor lauter Arbeit nie zu Hause bin, verlässt mich meine Frau und die Kinder künden ihre Liebe auf.

6. Bleibt also nur noch eines: Ich werde Stadtmusikant in Bremen. Auf dem Weg dorthin schliesse ich mich mit anderen unterversorgten Pensionierten zusammen; gemeinsam verjagen wir eine Bande von Investmentbankern aus ihrer Räubervilla am Zürichsee. Und fortan leben wir glücklich vom Schwarzgeld, das unter den Matratzen versteckt ist, und berauschen uns am Dom Pérignon aus dem Weinkeller. Ja, ich glaube, so mach ich es. Bleibt nur noch die Frage, welcher Stadtmusikant ich sein will. Ich denke, ich bin der Esel. I-aah.