Streitkultur

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 30. August 2017


«Vielleicht», sage ich und beisse in mein Gipfeli, «vielleicht müssen wir die Erziehung unserer Kinder nochmals überdenken.»

«Unbedingt», sagt meine Frau und schlürft ihren Kaffee. «Was ist heute der Grund?»

«Weil der Klügere immer nachgibt, sind so viele Dumme an der Macht. Habe ich neulich gelesen. Marie von Ebner-Eschenbach hat das so ähnlich gesagt.» «Und jetzt?», will meine Frau wissen.

«Jetzt müssen wir unsere Kinder das Streiten lehren.»

«Die können das schon», sagt meine Frau und zeigt auf die Kleinen, die sich in den Haaren liegen, wer das letzte Volg-Märkli einkleben darf.

«Nicht zanken um des Zankens willen. Sondern streiten, um der Dummheit die Stirn zu bieten.» «Tönt gut», sagt meine Frau. «Du weisst aber schon, dass das Wichtigste bei der Erziehung das eigene Beispiel ist.» «Was willst du damit sagen?» «Von dir lernen sie es jedenfalls nicht. Du bist harmoniesüchtig.»

«Bin ich nicht», sage ich. Sie schaut mich an. «Gut, vielleicht hast du recht», lenke ich ein. «Aber du, du bist doch immer so …» «Stur?», fragt sie.

«Standhaft», entgegne ich.

«Standhaft bis zur Sturheit», beharrt sie.

«Das ist genau das, was wir unseren Kindern beibringen sollten: Standhaftigkeit im Streit. Damit sie nicht zu Duckmäusern und Abnickern werden, die alles einfach hinnehmen.» «Sondern Wutbürger und Kommentartrolle?», wirft meine Frau ein. «Und wer sagt, dass unsere Kinder, wenn es drauf ankommt, zu den Klugen gehören und nicht zu den Dummen?» Darauf fällt mir auf die Schnelle nichts ein. Dumm.

«Papi», fragt jetzt die Grosse. «Wer von euch ist klüger?» «Mami», sage ich. «Papi», sagt meine Frau. «Wieso?», fragen wir beide. «Wir wollen eine Glace», sagt die Grosse. «Und ich dachte, ich frag gleich den Klügeren, der gibt ja nach.» «Heute wird nicht nachgegeben», sage ich. «Wir lernen jetzt, zu Ende zu streiten.»

Erstaunt schauen mich die Kleinen an. «Dann streiten wir jetzt mit dir, bis wir eine Glace kriegen», sagt die Grosse und macht ein grimmiges Gesicht.

«Wir streiten nicht um Banalitäten wie Glace, sondern um Prinzipien», sage ich.

«Wer ist der Prinzli Ben?», fragt der Kleine. «Prin-zi-pi-en. Ideale. Hohe Güter», sage ich.

«Ein Erdbeer-Cornet ist gut und hoch oben im Tiefkühlschrank. Ist das jetzt ein hohes Gut?», fragt die Grosse.

«Die Winnetou-Glace ist noch höher oben und noch güter», ereifert sich der Kleine.

«Stimmt nicht», giftelt die Grosse. «Stimmt wohl», plärrt der Kleine. «Hört sofort auf zu streiten. Und holt euch halt eure Glacen», gebe ich entnervt nach.

«Harmoniesüchtig. Sage ich doch», sagt meine Frau mit sanftem Spott. «Aber im Prinzip hast du recht.»

Monster im Lavendel

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 11. August 2017

Seit kurzem wohnen wir auf dem Land, wo, wie mir scheint, eine Kultur der zivilisierten Barbarei herrscht. Da sprengen am 1. August ein paar Knallköpfe den Schulhausbriefkasten in die Luft, kleben dann aber reumütig ein schriftliches Mea culpa in das Loch in der Wand: «Es tut uns leid. Wir haben den Briefkasten aus Versehen gesprengt. Wir melden uns beim Abwart und der Gemeinde. Es tut uns wirklich leid.» Höfliche Vandalen, gesittete Barbaren, das gibt’s nur hier. Und überhaupt: Schuld und Sühne, Leben und Tod, Fressen und Gefressenwerden – alles liegt auf dem Land irgendwie näher beieinander als in der Agglo.

Am Vormittag bewundert man mit den Kindern die herzigen Kälbli, die auf der Weide neben ihren Mamis liegen, und am Abend bestellt man online das Mischpaket Natura Beef vom Bauern ums Eck für 28 Franken das Kilo. Und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis die ersten findigen Landwirte nach den Selbstpflückfeldern die Selbstschlachtweiden einführen.

Bei uns auf der Terrasse ist jeden Tag Discovery Channel. Im Lavendel lauern die Monster. Achtbeinig, mit gelb gestreiftem Bauch und Giftklauen. Dutzende Wespenspinnen haben ihre Netze zwischen den violetten Lavendelblüten gesponnen, filigrane Wunderwerke, verstärkt mit einem speziellen Zickzackfaden. Und dann veranstalten die kunstsinnigen Killerinnen ein Massaker am Blütenbuffet: Sie fangen nicht nur Wespen, Hummeln und Zitronenfalter, sondern fressen nach der Paarung auch gleich ihre Männchen auf. Koitus. Exitus. Zivilisation und Barbarei. Alles ganz nah beieinander.

Überhaupt, die Viecher überall. Im Haus und ums Haus herum. Die toten Mäuse im Lichtschacht des Kellerfensters. Und natürlich Mücken, Mücken und nochmals Mücken, und Fliegen und Wespen. Und erzählen Sie mir jetzt bitte nicht, dass sich Wespen mit blankpolierten Einräpplern auf dem Esstisch vertreiben lassen. Da kann man auch gleich eine Hunderternote an die Wand nageln. Das bringt auch nichts.

Neben den Lästlingen kreuchen und fleuchen aber auch wunderschöne Geschöpfe herum: Tagpfauenaugen, Schwalbenschwänze und Taubenschwänzchen zum Beispiel. Kein Tag vergeht, an dem wir nicht ein neues, unbekanntes Insekt entdecken. Das Insektenlexikon liegt denn auch immer griffbereit auf dem Stubentisch: um die Viecher nachzuschlagen und nötigenfalls auch gleich zu erschlagen. Getötet vom gesammelten Wissen – zivilisierte Barbarei eben.

Gedanken-Gassi

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 22. Juli 2017

Wie kommen Sie auf neue Ideen? Also ich gehe mit meinen Gedanken Gassi. Die brauchen auch Auslauf zwischendurch. Dann lass ich sie von der Leine, damit sie sich so richtig austoben können. Ein verspielter Haufen, meine Gedanken. Nichts als Flausen im Kopf. Wehe, wenn sie losgelassen. Erst balgen sie wild miteinander. Urplötzlich lassen sie dann voneinander ab, nehmen Witterung auf und jagen pfeilschnell fremden Gerüchen und wilden Gerüchten hinterher. Dabei scheuchen sie Ideen auf, die hakenschlagend das Weite suchen, und erschrecken mit ihrem Gekläffe Einfälle, die vorbeiflanieren und nichts Böses ahnen.

Das Ganze dauert mal ein paar Minuten, mal mehrere Stunden. Am Schluss kommen die Gedanken angehechelt und wollen ausgiebig gelobt und gestreichelt werden für das, was sie angeschleppt haben: erlegte Ideen, ausgegrabene Kalauer, zerfledderte erste Sätze.

Manchmal haben sie unterwegs auch einen fremden Gedanken aufgegabelt. Der wird erst einmal ausgiebig von der ganzen Meute beschnuppert und dann auch an die Leine genommen. Zwar krieg ich manchmal ein schlechtes Gewissen, den nach Hause zu nehmen; immerhin stammt er nicht von mir. Aber andererseits hat so ein Gedanke ja keine Hundemarke um den Hals. Die Gedanken sind frei.

Und dann beginnt für mich die Arbeit: Kletten und Zecken aus dem Fell kämmen; schauen, an welchem Knochen noch etwas Fleisch dran ist, und sich die neu zugelaufenen Gedanken zu Freunden machen. Und natürlich die ganzen Kothaufen wegputzen, die die Gedanken hinterlassen haben. Und mit etwas Glück findet sich unter dem angeschleppten Zeug etwas Brauchbares.

Aber neulich wurde ich gedankenlos meine Gedanken los. Wir sind umgezogen, und ich hätte vor dem ersten Gassigehen die Gedanken erst mal an die neue Umgebung gewöhnen müssen. Jedenfalls rannten sie los, kaum hatte ich sie von der Leine gelassen – und bis sind heute nicht mehr zurückgekommen. Dumme Gedanken.

Ich weiss nicht, was mit ihnen passiert ist. Vielleicht hat sie einer der Mähdrescher erwischt, die bis spät in die Nacht hinein unterwegs sind. Kein schöner Gedanke. Vielleicht hatten sie aber auch einfach die Schnauze voll, ständig neue Ideen apportieren zu müssen. Und jetzt suchen sie sich ein neues Daheim.

Falls also in den nächsten Tagen bei Ihnen ein schräger Gedanke auftaucht, an Ihrer Türe kratzt und Sie mit gros­sen Hundeaugen um Einlass anbettelt – der könnte von mir sein. Aber sie dürfen ihn ruhig behalten, ich mach mir unterdessen ein paar neue.

Aber Vorsicht: Nicht alle sind stubenrein und kinderlieb. Und entwurmt im Fall auch nicht. Nur damit Sie es wissen.

Einschlaf-Rituale

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 28. Juni 2017

Das Monster unter dem Bett ist das kleinste Problem. Wie jeder weiss, hilft dagegen nur eines: ein kräftiger Pups in die Matratze. Ausser natürlich, es handle sich um ein Exemplar der Sorte Flatulenza impertinenta – dann geht der Schuss nach hinten los, und zwar gewaltig. Aber derartige Schreckgestalten sind relativ selten in westeuropäischen Kinderzimmern. «Furz mal kräftig», fordere ich daher meinen Sohn auf. Mit einer diebischen Freude donnert er fröhliche Böllerschüsse in die Matratze, Bohnensalat zum Znacht sei Dank. Und es funktioniert: Unter wüsten Flüchen löst sich das Monster in Luft auf. Doppelt erleichtert kuschelt sich der Kleine in seine Decke.

Leise will ich mich aus dem Kinderzimmer schleichen, da setzt sich die Grosse im Hochbett auf: «Papi, ich habe Angst, dass in der Nacht ein böser Wolf ins Zimmer kommt.» «Wölfe sind nicht böse. Und sie kommen auch nicht zu uns ins Tal», sage ich. «Die werden droben in Jaun vergiftet», füge ich in Gedanken hinzu. Beruhigt lässt sie sich wieder ins Bett sinken.

«Papi», meldet sich da der Kleine mit ängstlicher Stimme, «ich glaub, da ist ein Gespenst im Schrank.» Ich schaue nach. Tatsächlich. Seufzend setze ich mich zum Gespenst in den Schrank und fordere es zu einem «Schere, Stein, Papier»-Duell heraus. Was bleibt mir sonst anderes übrig? Wir spielen sieben mal sieben Runden, wovon ich ausnahmslos alle gewinne.

Völlig entgeistert entschwebt das Gespenst. Nachtgespenster, das nur nebenbei, sind bekanntlich durchsichtig, weshalb man beim Schere, Stein, Papier immer genau sieht, was sie hinter ihrem Rücken vorbereiten. Das ist geschummelt, ich weiss. Aber wenn die Kleinen Schiss haben, ist Bescheissen erlaubt.

Als ich aus dem Schrank steige, spüre ich den heissen Atem des Drachens in meinem Nacken, bevor mir meine Kinder zurufen, dass hinter mir ein Drache steht. Ich hechte unter seinem Feuerstrahl hindurch, rolle mich ab, hebe dabei das Kartonschwert des Kleinen vom Boden auf – gut, hat niemand aufgeräumt – und säble dem Lindwurm einen Kopf ab. Er hat sieben. Und sogleich wachsen zwei nach, und das Kartonschwert fängt Feuer.

Zum Glück kommt in diesem Moment meine Frau ins Zimmer. «Schleich dich», befiehlt sie dem Gewürm, «sonst stopfe ich dich aus und verkaufe dich als Maskottchen im Gottéron-Fanshop.» Dazu macht sie mit einer Flasche Anti-Schuppen-Shampoo dreimal das Kreuzzeichen. Ein heiliger Schreck durchzuckt das Schuppentier, es entfleucht durchs Fenster Richtung Schwarzsee und ward nie mehr gesehen.

Jetzt ist es still im Kinderzimmer. Die Kleinen schlafen. Leise gehen wir hinaus, sorgsam darauf bedacht, nicht ins Drachenblut zu treten, das am Parkett klebt.

Reality-Brille selber basteln

Virtual-Reality-Brillen kennen wir alle. Die lassen sich auch ganz einfach selber basteln – mit Wellkarton und Smartphone.

Viel dringender allerdings bräuchten wir Reality-Brillen. Finde ich. Die lassen sich auch ganz einfach selber basteln – mit Wellkarton und Smartphone.

So gehts:
1. Vorlage auf Wellkarton übertragen, ausschneiden, Gummibänder anbringen.
2. Brille anziehen.
3. Ganz wichtig ist die korrekte Montage des Smartphones. Das gehört in die linke Gesässtasche. Oder die Handtasche. Am besten ausgeschaltet.
4. Und jetzt: Genau hinschauen. Scharf nachdenken. Dann klappts auch mit der Realität.

       

Habe Schaf – suche Seckel

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 14. Juni 2017

Kleinanzeigen sind grosses Kino. Drama, Action, Gefühle – alles drin in zwei, drei Zeilen. Vor einiger Zeit stand zum Beispiel in der «Friburgera» folgende Annonce. Ungelogen. «Suche eine ältere Gans und Kabishobel.» Ein Satz – und schon krieg ich Gänsehaut. Hitchcock hätte das nicht besser hingekriegt. Was geht da ab? Sucht ein perverser Psychokiller sein neustes Opfer – per Kleinanzeige? Und welche Gans ist doof genug, sich darauf zu melden? Oder versucht sich da jemand in der Herstellung von Gänsecarpaccio?

Ich weiss es nicht, ist ja auch egal. Jedenfalls hab ich mir gesagt, was der Gänsehobler kann, kann ich auch. Seither mache ich mir einen Sport daraus, absurde Kleinanzeigen zu texten und in die Zeitung zu schmuggeln – als Kürzestgeschichten und intellektuelle Stolpersteine.

«Verkaufe VW Golf. Handicap: 18 Löcher.» So was in der Art. Oder: «Renitente Gofen? Hutätä hilft. Auch für Kindergeburtstage buchbar.» Da kommt schon der eine oder die andere in Versuchung, zum Hörer zu greifen. Und wenn wir schon bei Spukgestalten sind: «Spende Blut – rette Leben. Nach 24 Uhr bei Graf D. klingeln.»

Lokalkolorit kommt auch gut an, das schafft Authentizität. «Sammle alte Pöteterli. Nur einwandfrei funktionierende Exemplare.» Und es darf ruhig auch ein wenig weh tun: «Tausche Gottéron-Trikot gegen Servette-Schärpe.»

Mit Tieren kann man auch nichts falsch machen. «Abzugeben: Nacktschnecke, kastriert und kinderlieb. Nur in FKK-Familie mit Häuschen.» Da stehen gleich allen Büsi­streichlern die Haare zu Berge.

Oder ein bisschen Tristesse à la Kaurismäki: «Tausche Briefmarkensammlung gegen Leben. Bei Nichtinteresse – leckt mich.» Je absurder, desto besser. «Robinson sucht Freitag. Erreichbar Mo.–Do., Sa./So.» Oder wieso nicht gleich so? «Habe Schaf. Suche Seckel.» Da fällt den Kaffeerahmdeckelisammlern gleich die Tasse aus der Hand.

Ein Fall für sich sind Kontaktanzeigen. Kontaktanzeigen sind ja entweder romantisch verbrämte Aufrufe zum bandenmässigen Diebstahl von Einhufern («Suche einen Mann zum Pferde stehlen») oder dann ein Abkürzungsgewitter mit dem Charme eines Durchfallbakteriums («Dipl. Ing. ETH, AHV, GA, NR, FDP, FKK, EFH, sucht ebs. Sie zw. L.&GV.»).

Mein Vorschlag: «Du bist einsam? Lass es uns gemeinsam sein.» Was so beginnt, das geht nicht mehr auseinander, davon bin ich überzeugt.

Meine liebste Anzeige aber lautet: «Habe nichts. Gebe alles. Muss abgeholt werden.»

Bis jetzt hat sich noch niemand darauf gemeldet.

Ro-Ro-Roboter

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 24. Mai 2017

Dipl. Ing. Baeriswyl tupft sich mit einer dünnen Papierserviette den Kaffee von der Hose. Kantinenroboter «iFröilein» hat den Milchkaffee so schnell an den Tisch gefahren, dass die Hälfte davon übergeschwappt ist. Zum dritten Mal schon diese Woche. Ein Projekt der Erstsemestrigen; denen muss ich nochmals die physikalischen Grundlagen der Beschleunigung erklären, denkt Baeriswyl – und am Silikon-Po müssen sie auch noch arbeiten. Das Kneifgefühl stimmt noch nicht.

Seine Kollegen am Znünitisch prahlen mit ihren neusten Durchbrüchen. Richter erzählt von seiner App für selbstfahrende Autos, die in den Sekundenbruchteilen vor einem Crash die Handydaten aller potenzieller Unfallopfer erfasst. Telefonnummern, Facebook-Kontakte, Finanztransaktionen. «Und zack, schon weiss das Auto, wer sozial wertvoller ist und wen es über den Haufen fahren soll, wenn es nicht anders geht», erzählt Richter. «Ich bin allerdings noch unschlüssig, was der Algorithmus höher gewichten soll: regelmässige Telefonate mit der Familie oder die Anzahl der Instagramm-Follower.»

Sugimoto zeigt ein Handyvideo vom Test seiner Paketdrohne «Kamikaze». «Die nimmt das Zalando-Paket gleich wieder mit, wenn einem die Kleider nicht passen. Was ja sowieso immer der Fall ist», lacht er. «Damit spart sich die durchschnittliche Zalando-Kundin, hochgerechnet auf ihr Leben, einen Monat Wartezeit in der Post. Stellt euch vor, was sie mit dieser geschenkten Zeit alles anfangen kann», strahlt Sugimoto in die Runde. «Noch mehr bei Zalando bestellen», prustet Baeriswyl los. Grosses Gaudi.

«Was glaubt ihr», fragt nun Dunant, «wie viele Sätze muss ich meinem Pflegeroboter einprogrammieren, damit ihn die Alten nicht mehr als Roboter wahrnehmen?» «Drei», sagt Sugimoto: «Wie geht es uns heute?» – «Sodeli.» – «Uf wiederluege!» Schallendes Gelächter.

«Und du, Baeriswyl, ­woran arbeitest du gerade?», fragt Richter. «Ich?», fragt Baeriswyl, «im Gegensatz zu euch arbeite ich an einem wirklich visionären Projekt.» Die Kaffeerunde staunt ihn an. «Wir sind die klügsten Köpfe weit und breit», sagt Baeriswyl. «Und was tun wir? Wir erfinden Roboter, die diejenigen arbeitslos machen, die nichts von Algorithmen verstehen.» «Das tönt so negativ», wirft Richter ein. «Wir befreien die Menschen von stumpfsinniger Arbeit. Und sparen obendrein einen Haufen Geld – so ein Roboter braucht ja keine Ferien.» «Genau», sagt Baeriswyl, «aber was, wenn wir alle Busfahrer, Päcklipöstler und Pflegerinnen durch Maschinen ersetzt haben? Wir müssen doch viel radikaler denken – und Ingenieur-Roboter erfinden, die uns überflüssig machen. Das wäre wahre Effizienz. Oder?»

Plötzlich wird es ganz still am Tisch. Nur «iFröilein» kichert leise und räumt die leeren Tassen ab.

Das grosse Krabbeln

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 16. Mai 2017

Meine Frau schaut mir mit zärtlichem Blick tief in die Augen – und ich spür ein Krabbeln im Bauch. «Ich spür ein Krabbeln im Bauch», informiere ich meine Frau. «Das heisst Kribbeln», korrigiert sie mich. Sie ist Deutschlehrerin. «Es fühlt sich aber eher wie ein Krabbeln an», beharre ich. «Ich glaube, die Mehlwürmer waren nicht ganz durch.» «Hast du sie denn nicht gekaut?», fragt meine Frau ungläubig.

Ein paar Stunden zuvor waren wir im Shoppingcenter an einen Degustationsstand mit Insekten geraten: Mehlwürmer, Heuschrecken, Grillen. Ich hatte meine Fühler nicht schnell genug eingezogen, und schon surrte eine Hostess heran und drückte mir ein Schälchen frittierten Gewürms in die Hand. Erwartungsvoll schaute sie mich aus ihren irritierend grossen Facettenaugen an. Also kippte ich die Viecher in meinen Mund. Auf ex. «Schmeckt wie Poulet, gälled Sie», zirpte die Hostess.

Ich spüre, wie mir übel wird und hole mir einen Schnaps.

«Ich versteh ja, dass Insektenessen ökologischer ist als jeden Tag Rinderfilet», sage ich, «aber trotzdem: Wenn im Restaurant in deiner Suppe eine Fliege schwimmt, weisst du künftig nicht mehr, ob der Koch ein Söiniggel ist oder ob das als Dekoration gemeint ist.» «Das ist dann ein ­Amuse-mouche», sagt meine Frau und schenkt mir einen zweiten Schnaps ein.

«Und Grillen? Wie soll man Grillen grillen? Die fallen doch durch den Rost. Und etwas essen, das den Schrecken schon im Namen trägt? Heuschrecklich.»

Ein dritter Schnaps kann nicht schaden, denke ich, und schenke nach.

«Und man kann seiner Frau nicht mehr Chäferli sagen», fahre ich fort, «weil man dann gleich ans Znacht denken muss und das Gesicht verzieht – und dann meint sie, man habe sie nicht mehr lieb.» «Wer seiner Frau Chäferli sagt, hat sie nicht lieb, sondern ist ein Mistkäfer», sagt meine Frau scharf. «Da hast du natürlich recht, Räupli», beeile ich mich zu sagen, worauf sie mir einen Blick zuwirft, den ich nicht ganz deuten kann.

Lieber noch einen Schnaps.

Ich stell mir vor, wie die Mehlwürmer in meinem Bauch die Eingeweide von innen her auffressen. Panik steigt in mir hoch. «Und wenn du in deiner Küche eine Kakerlake entdeckst, rufst du nicht mehr den Kammerjäger, sondern: ‹Unser Essen haut ab.›» «Haben Käfer eigentlich ein Weglaufdatum?», fragt meine Frau. Ich muss lachen. Das ist wieder mal typisch für sie. Ich male mir meinen grausamen Tod aus, und sie macht billige Witze. Genau deswegen liebe ich sie so.

«Und», fragt meine Frau und schaut mich liebevoll an, «immer noch Tierchen in deinem Bauch?» «Ja», sage ich, «aber sie haben sich grad als Schmetterlinge entpuppt.»

Was, wenn alles gut wird?

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 24. April 2017

Was, wenn das Glück an dir klebt wie Pech und wohin du dich auch verrennst, es kommt mit? Was, wenn heute alles glatt geht, auch die harzigen Sachen? Was, wenn deine Ängste unbegründet sind? Und deine Hoffnungen berechtigt? Was, wenn heute keine Rechnung im Briefkasten liegt, sondern die Zusage für den Job, mit der du nicht gerechnet hast? Was, wenn die anderen mehr in dir sehen als du selbst – und das mit Recht? Was, wenn du heute im Bus neben dem Menschen zu sitzen kommst, von dem du schon gar nicht mehr geglaubt hast, dass es ihn gibt?

Was, wenn alles gut wird?

Was, wenn die Selbstmordattentäter plötzlich in die Luft gehen vor Lebensfreude und Liebeslust und statt nach dem Sprengstoffgürtel lieber nach den Speckröllchen eines geliebten Menschen greifen? Und was, wenn die 72 Jungfrauen schon im Hier und Jetzt paradiesischen Sex haben? Was, wenn es einen liebenden Teufel gibt, der schon mal Kohle nachlegt, um all den miesen, machtversessenen alten Männern dieser Welt kräftig Feuer unter dem Hintern zu machen – und zwar schon bald?

Was, wenn alles gut wird?

Was, wenn die Liebe hält und die Ehe? Und die Bodenheizung erst im Frühling ihren Geist aushaucht? Und selbst wenn es dann noch einmal kalt wird, ihr könnt ja kuscheln. Was, wenn die Operation gelingt? Und die Krankenkasse im Nullkommanichts alles anstandslos bezahlt? Und die Zahnspange nicht so teuer zu stehen kommt, wie befürchtet? Und das Haus nicht zur Hypothek wird?

Was, wenn den Schnecken der Appetit vergeht und den Frösten das Frösteln und die Blumen heuer verschwenderisch blühen vom April bis in den Oktober? Und du beim Kirschkuchenessen schneller bist als die Wespen?

Was, wenn alles gut wird?

Was, wenn die Kinder die Abschlussprüfung nicht verhauen und die Lehre nicht versiffen? Was, wenn sie nicht auf die schiefe Bahn oder in die falschen Kreise geraten, sondern unbeirrt als mutige Zweifler ihren Zickzackkurs durch den Ozean der Möglichkeiten steuern? Was, wenn du nicht alles falsch gemacht hast, und sie dir den Rest verzeihen?

Was, wenn die Rente reicht zum Leben und das Leben für die Rente? Was, wenn das Stechen in der Brust am Morgen kein Herzinfarkt ist, sondern lediglich die Lesebrille, auf der du die ganze Nacht gelegen hast? Und was, wenn die Enkel dich besuchen kommen, auch wenn du gar nicht mehr weisst, dass du Enkel hast?

Was, wenn alles gut wird?