Gedanken-Gassi

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 22. Juli 2017

Wie kommen Sie auf neue Ideen? Also ich gehe mit meinen Gedanken Gassi. Die brauchen auch Auslauf zwischendurch. Dann lass ich sie von der Leine, damit sie sich so richtig austoben können. Ein verspielter Haufen, meine Gedanken. Nichts als Flausen im Kopf. Wehe, wenn sie losgelassen. Erst balgen sie wild miteinander. Urplötzlich lassen sie dann voneinander ab, nehmen Witterung auf und jagen pfeilschnell fremden Gerüchen und wilden Gerüchten hinterher. Dabei scheuchen sie Ideen auf, die hakenschlagend das Weite suchen, und erschrecken mit ihrem Gekläffe Einfälle, die vorbeiflanieren und nichts Böses ahnen.

Das Ganze dauert mal ein paar Minuten, mal mehrere Stunden. Am Schluss kommen die Gedanken angehechelt und wollen ausgiebig gelobt und gestreichelt werden für das, was sie angeschleppt haben: erlegte Ideen, ausgegrabene Kalauer, zerfledderte erste Sätze.

Manchmal haben sie unterwegs auch einen fremden Gedanken aufgegabelt. Der wird erst einmal ausgiebig von der ganzen Meute beschnuppert und dann auch an die Leine genommen. Zwar krieg ich manchmal ein schlechtes Gewissen, den nach Hause zu nehmen; immerhin stammt er nicht von mir. Aber andererseits hat so ein Gedanke ja keine Hundemarke um den Hals. Die Gedanken sind frei.

Und dann beginnt für mich die Arbeit: Kletten und Zecken aus dem Fell kämmen; schauen, an welchem Knochen noch etwas Fleisch dran ist, und sich die neu zugelaufenen Gedanken zu Freunden machen. Und natürlich die ganzen Kothaufen wegputzen, die die Gedanken hinterlassen haben. Und mit etwas Glück findet sich unter dem angeschleppten Zeug etwas Brauchbares.

Aber neulich wurde ich gedankenlos meine Gedanken los. Wir sind umgezogen, und ich hätte vor dem ersten Gassigehen die Gedanken erst mal an die neue Umgebung gewöhnen müssen. Jedenfalls rannten sie los, kaum hatte ich sie von der Leine gelassen – und bis sind heute nicht mehr zurückgekommen. Dumme Gedanken.

Ich weiss nicht, was mit ihnen passiert ist. Vielleicht hat sie einer der Mähdrescher erwischt, die bis spät in die Nacht hinein unterwegs sind. Kein schöner Gedanke. Vielleicht hatten sie aber auch einfach die Schnauze voll, ständig neue Ideen apportieren zu müssen. Und jetzt suchen sie sich ein neues Daheim.

Falls also in den nächsten Tagen bei Ihnen ein schräger Gedanke auftaucht, an Ihrer Türe kratzt und Sie mit gros­sen Hundeaugen um Einlass anbettelt – der könnte von mir sein. Aber sie dürfen ihn ruhig behalten, ich mach mir unterdessen ein paar neue.

Aber Vorsicht: Nicht alle sind stubenrein und kinderlieb. Und entwurmt im Fall auch nicht. Nur damit Sie es wissen.

Einschlaf-Rituale

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 28. Juni 2017

Das Monster unter dem Bett ist das kleinste Problem. Wie jeder weiss, hilft dagegen nur eines: ein kräftiger Pups in die Matratze. Ausser natürlich, es handle sich um ein Exemplar der Sorte Flatulenza impertinenta – dann geht der Schuss nach hinten los, und zwar gewaltig. Aber derartige Schreckgestalten sind relativ selten in westeuropäischen Kinderzimmern. «Furz mal kräftig», fordere ich daher meinen Sohn auf. Mit einer diebischen Freude donnert er fröhliche Böllerschüsse in die Matratze, Bohnensalat zum Znacht sei Dank. Und es funktioniert: Unter wüsten Flüchen löst sich das Monster in Luft auf. Doppelt erleichtert kuschelt sich der Kleine in seine Decke.

Leise will ich mich aus dem Kinderzimmer schleichen, da setzt sich die Grosse im Hochbett auf: «Papi, ich habe Angst, dass in der Nacht ein böser Wolf ins Zimmer kommt.» «Wölfe sind nicht böse. Und sie kommen auch nicht zu uns ins Tal», sage ich. «Die werden droben in Jaun vergiftet», füge ich in Gedanken hinzu. Beruhigt lässt sie sich wieder ins Bett sinken.

«Papi», meldet sich da der Kleine mit ängstlicher Stimme, «ich glaub, da ist ein Gespenst im Schrank.» Ich schaue nach. Tatsächlich. Seufzend setze ich mich zum Gespenst in den Schrank und fordere es zu einem «Schere, Stein, Papier»-Duell heraus. Was bleibt mir sonst anderes übrig? Wir spielen sieben mal sieben Runden, wovon ich ausnahmslos alle gewinne.

Völlig entgeistert entschwebt das Gespenst. Nachtgespenster, das nur nebenbei, sind bekanntlich durchsichtig, weshalb man beim Schere, Stein, Papier immer genau sieht, was sie hinter ihrem Rücken vorbereiten. Das ist geschummelt, ich weiss. Aber wenn die Kleinen Schiss haben, ist Bescheissen erlaubt.

Als ich aus dem Schrank steige, spüre ich den heissen Atem des Drachens in meinem Nacken, bevor mir meine Kinder zurufen, dass hinter mir ein Drache steht. Ich hechte unter seinem Feuerstrahl hindurch, rolle mich ab, hebe dabei das Kartonschwert des Kleinen vom Boden auf – gut, hat niemand aufgeräumt – und säble dem Lindwurm einen Kopf ab. Er hat sieben. Und sogleich wachsen zwei nach, und das Kartonschwert fängt Feuer.

Zum Glück kommt in diesem Moment meine Frau ins Zimmer. «Schleich dich», befiehlt sie dem Gewürm, «sonst stopfe ich dich aus und verkaufe dich als Maskottchen im Gottéron-Fanshop.» Dazu macht sie mit einer Flasche Anti-Schuppen-Shampoo dreimal das Kreuzzeichen. Ein heiliger Schreck durchzuckt das Schuppentier, es entfleucht durchs Fenster Richtung Schwarzsee und ward nie mehr gesehen.

Jetzt ist es still im Kinderzimmer. Die Kleinen schlafen. Leise gehen wir hinaus, sorgsam darauf bedacht, nicht ins Drachenblut zu treten, das am Parkett klebt.

Reality-Brille selber basteln

Virtual-Reality-Brillen kennen wir alle. Die lassen sich auch ganz einfach selber basteln – mit Wellkarton und Smartphone.

Viel dringender allerdings bräuchten wir Reality-Brillen. Finde ich. Die lassen sich auch ganz einfach selber basteln – mit Wellkarton und Smartphone.

So gehts:
1. Vorlage auf Wellkarton übertragen, ausschneiden, Gummibänder anbringen.
2. Brille anziehen.
3. Ganz wichtig ist die korrekte Montage des Smartphones. Das gehört in die linke Gesässtasche. Oder die Handtasche. Am besten ausgeschaltet.
4. Und jetzt: Genau hinschauen. Scharf nachdenken. Dann klappts auch mit der Realität.

       

Habe Schaf – suche Seckel

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 14. Juni 2017

Kleinanzeigen sind grosses Kino. Drama, Action, Gefühle – alles drin in zwei, drei Zeilen. Vor einiger Zeit stand zum Beispiel in der «Friburgera» folgende Annonce. Ungelogen. «Suche eine ältere Gans und Kabishobel.» Ein Satz – und schon krieg ich Gänsehaut. Hitchcock hätte das nicht besser hingekriegt. Was geht da ab? Sucht ein perverser Psychokiller sein neustes Opfer – per Kleinanzeige? Und welche Gans ist doof genug, sich darauf zu melden? Oder versucht sich da jemand in der Herstellung von Gänsecarpaccio?

Ich weiss es nicht, ist ja auch egal. Jedenfalls hab ich mir gesagt, was der Gänsehobler kann, kann ich auch. Seither mache ich mir einen Sport daraus, absurde Kleinanzeigen zu texten und in die Zeitung zu schmuggeln – als Kürzestgeschichten und intellektuelle Stolpersteine.

«Verkaufe VW Golf. Handicap: 18 Löcher.» So was in der Art. Oder: «Renitente Gofen? Hutätä hilft. Auch für Kindergeburtstage buchbar.» Da kommt schon der eine oder die andere in Versuchung, zum Hörer zu greifen. Und wenn wir schon bei Spukgestalten sind: «Spende Blut – rette Leben. Nach 24 Uhr bei Graf D. klingeln.»

Lokalkolorit kommt auch gut an, das schafft Authentizität. «Sammle alte Pöteterli. Nur einwandfrei funktionierende Exemplare.» Und es darf ruhig auch ein wenig weh tun: «Tausche Gottéron-Trikot gegen Servette-Schärpe.»

Mit Tieren kann man auch nichts falsch machen. «Abzugeben: Nacktschnecke, kastriert und kinderlieb. Nur in FKK-Familie mit Häuschen.» Da stehen gleich allen Büsi­streichlern die Haare zu Berge.

Oder ein bisschen Tristesse à la Kaurismäki: «Tausche Briefmarkensammlung gegen Leben. Bei Nichtinteresse – leckt mich.» Je absurder, desto besser. «Robinson sucht Freitag. Erreichbar Mo.–Do., Sa./So.» Oder wieso nicht gleich so? «Habe Schaf. Suche Seckel.» Da fällt den Kaffeerahmdeckelisammlern gleich die Tasse aus der Hand.

Ein Fall für sich sind Kontaktanzeigen. Kontaktanzeigen sind ja entweder romantisch verbrämte Aufrufe zum bandenmässigen Diebstahl von Einhufern («Suche einen Mann zum Pferde stehlen») oder dann ein Abkürzungsgewitter mit dem Charme eines Durchfallbakteriums («Dipl. Ing. ETH, AHV, GA, NR, FDP, FKK, EFH, sucht ebs. Sie zw. L.&GV.»).

Mein Vorschlag: «Du bist einsam? Lass es uns gemeinsam sein.» Was so beginnt, das geht nicht mehr auseinander, davon bin ich überzeugt.

Meine liebste Anzeige aber lautet: «Habe nichts. Gebe alles. Muss abgeholt werden.»

Bis jetzt hat sich noch niemand darauf gemeldet.

Ro-Ro-Roboter

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 24. Mai 2017

Dipl. Ing. Baeriswyl tupft sich mit einer dünnen Papierserviette den Kaffee von der Hose. Kantinenroboter «iFröilein» hat den Milchkaffee so schnell an den Tisch gefahren, dass die Hälfte davon übergeschwappt ist. Zum dritten Mal schon diese Woche. Ein Projekt der Erstsemestrigen; denen muss ich nochmals die physikalischen Grundlagen der Beschleunigung erklären, denkt Baeriswyl – und am Silikon-Po müssen sie auch noch arbeiten. Das Kneifgefühl stimmt noch nicht.

Seine Kollegen am Znünitisch prahlen mit ihren neusten Durchbrüchen. Richter erzählt von seiner App für selbstfahrende Autos, die in den Sekundenbruchteilen vor einem Crash die Handydaten aller potenzieller Unfallopfer erfasst. Telefonnummern, Facebook-Kontakte, Finanztransaktionen. «Und zack, schon weiss das Auto, wer sozial wertvoller ist und wen es über den Haufen fahren soll, wenn es nicht anders geht», erzählt Richter. «Ich bin allerdings noch unschlüssig, was der Algorithmus höher gewichten soll: regelmässige Telefonate mit der Familie oder die Anzahl der Instagramm-Follower.»

Sugimoto zeigt ein Handyvideo vom Test seiner Paketdrohne «Kamikaze». «Die nimmt das Zalando-Paket gleich wieder mit, wenn einem die Kleider nicht passen. Was ja sowieso immer der Fall ist», lacht er. «Damit spart sich die durchschnittliche Zalando-Kundin, hochgerechnet auf ihr Leben, einen Monat Wartezeit in der Post. Stellt euch vor, was sie mit dieser geschenkten Zeit alles anfangen kann», strahlt Sugimoto in die Runde. «Noch mehr bei Zalando bestellen», prustet Baeriswyl los. Grosses Gaudi.

«Was glaubt ihr», fragt nun Dunant, «wie viele Sätze muss ich meinem Pflegeroboter einprogrammieren, damit ihn die Alten nicht mehr als Roboter wahrnehmen?» «Drei», sagt Sugimoto: «Wie geht es uns heute?» – «Sodeli.» – «Uf wiederluege!» Schallendes Gelächter.

«Und du, Baeriswyl, ­woran arbeitest du gerade?», fragt Richter. «Ich?», fragt Baeriswyl, «im Gegensatz zu euch arbeite ich an einem wirklich visionären Projekt.» Die Kaffeerunde staunt ihn an. «Wir sind die klügsten Köpfe weit und breit», sagt Baeriswyl. «Und was tun wir? Wir erfinden Roboter, die diejenigen arbeitslos machen, die nichts von Algorithmen verstehen.» «Das tönt so negativ», wirft Richter ein. «Wir befreien die Menschen von stumpfsinniger Arbeit. Und sparen obendrein einen Haufen Geld – so ein Roboter braucht ja keine Ferien.» «Genau», sagt Baeriswyl, «aber was, wenn wir alle Busfahrer, Päcklipöstler und Pflegerinnen durch Maschinen ersetzt haben? Wir müssen doch viel radikaler denken – und Ingenieur-Roboter erfinden, die uns überflüssig machen. Das wäre wahre Effizienz. Oder?»

Plötzlich wird es ganz still am Tisch. Nur «iFröilein» kichert leise und räumt die leeren Tassen ab.

Das grosse Krabbeln

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 16. Mai 2017

Meine Frau schaut mir mit zärtlichem Blick tief in die Augen – und ich spür ein Krabbeln im Bauch. «Ich spür ein Krabbeln im Bauch», informiere ich meine Frau. «Das heisst Kribbeln», korrigiert sie mich. Sie ist Deutschlehrerin. «Es fühlt sich aber eher wie ein Krabbeln an», beharre ich. «Ich glaube, die Mehlwürmer waren nicht ganz durch.» «Hast du sie denn nicht gekaut?», fragt meine Frau ungläubig.

Ein paar Stunden zuvor waren wir im Shoppingcenter an einen Degustationsstand mit Insekten geraten: Mehlwürmer, Heuschrecken, Grillen. Ich hatte meine Fühler nicht schnell genug eingezogen, und schon surrte eine Hostess heran und drückte mir ein Schälchen frittierten Gewürms in die Hand. Erwartungsvoll schaute sie mich aus ihren irritierend grossen Facettenaugen an. Also kippte ich die Viecher in meinen Mund. Auf ex. «Schmeckt wie Poulet, gälled Sie», zirpte die Hostess.

Ich spüre, wie mir übel wird und hole mir einen Schnaps.

«Ich versteh ja, dass Insektenessen ökologischer ist als jeden Tag Rinderfilet», sage ich, «aber trotzdem: Wenn im Restaurant in deiner Suppe eine Fliege schwimmt, weisst du künftig nicht mehr, ob der Koch ein Söiniggel ist oder ob das als Dekoration gemeint ist.» «Das ist dann ein ­Amuse-mouche», sagt meine Frau und schenkt mir einen zweiten Schnaps ein.

«Und Grillen? Wie soll man Grillen grillen? Die fallen doch durch den Rost. Und etwas essen, das den Schrecken schon im Namen trägt? Heuschrecklich.»

Ein dritter Schnaps kann nicht schaden, denke ich, und schenke nach.

«Und man kann seiner Frau nicht mehr Chäferli sagen», fahre ich fort, «weil man dann gleich ans Znacht denken muss und das Gesicht verzieht – und dann meint sie, man habe sie nicht mehr lieb.» «Wer seiner Frau Chäferli sagt, hat sie nicht lieb, sondern ist ein Mistkäfer», sagt meine Frau scharf. «Da hast du natürlich recht, Räupli», beeile ich mich zu sagen, worauf sie mir einen Blick zuwirft, den ich nicht ganz deuten kann.

Lieber noch einen Schnaps.

Ich stell mir vor, wie die Mehlwürmer in meinem Bauch die Eingeweide von innen her auffressen. Panik steigt in mir hoch. «Und wenn du in deiner Küche eine Kakerlake entdeckst, rufst du nicht mehr den Kammerjäger, sondern: ‹Unser Essen haut ab.›» «Haben Käfer eigentlich ein Weglaufdatum?», fragt meine Frau. Ich muss lachen. Das ist wieder mal typisch für sie. Ich male mir meinen grausamen Tod aus, und sie macht billige Witze. Genau deswegen liebe ich sie so.

«Und», fragt meine Frau und schaut mich liebevoll an, «immer noch Tierchen in deinem Bauch?» «Ja», sage ich, «aber sie haben sich grad als Schmetterlinge entpuppt.»

Was, wenn alles gut wird?

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 24. April 2017

Was, wenn das Glück an dir klebt wie Pech und wohin du dich auch verrennst, es kommt mit? Was, wenn heute alles glatt geht, auch die harzigen Sachen? Was, wenn deine Ängste unbegründet sind? Und deine Hoffnungen berechtigt? Was, wenn heute keine Rechnung im Briefkasten liegt, sondern die Zusage für den Job, mit der du nicht gerechnet hast? Was, wenn die anderen mehr in dir sehen als du selbst – und das mit Recht? Was, wenn du heute im Bus neben dem Menschen zu sitzen kommst, von dem du schon gar nicht mehr geglaubt hast, dass es ihn gibt?

Was, wenn alles gut wird?

Was, wenn die Selbstmordattentäter plötzlich in die Luft gehen vor Lebensfreude und Liebeslust und statt nach dem Sprengstoffgürtel lieber nach den Speckröllchen eines geliebten Menschen greifen? Und was, wenn die 72 Jungfrauen schon im Hier und Jetzt paradiesischen Sex haben? Was, wenn es einen liebenden Teufel gibt, der schon mal Kohle nachlegt, um all den miesen, machtversessenen alten Männern dieser Welt kräftig Feuer unter dem Hintern zu machen – und zwar schon bald?

Was, wenn alles gut wird?

Was, wenn die Liebe hält und die Ehe? Und die Bodenheizung erst im Frühling ihren Geist aushaucht? Und selbst wenn es dann noch einmal kalt wird, ihr könnt ja kuscheln. Was, wenn die Operation gelingt? Und die Krankenkasse im Nullkommanichts alles anstandslos bezahlt? Und die Zahnspange nicht so teuer zu stehen kommt, wie befürchtet? Und das Haus nicht zur Hypothek wird?

Was, wenn den Schnecken der Appetit vergeht und den Frösten das Frösteln und die Blumen heuer verschwenderisch blühen vom April bis in den Oktober? Und du beim Kirschkuchenessen schneller bist als die Wespen?

Was, wenn alles gut wird?

Was, wenn die Kinder die Abschlussprüfung nicht verhauen und die Lehre nicht versiffen? Was, wenn sie nicht auf die schiefe Bahn oder in die falschen Kreise geraten, sondern unbeirrt als mutige Zweifler ihren Zickzackkurs durch den Ozean der Möglichkeiten steuern? Was, wenn du nicht alles falsch gemacht hast, und sie dir den Rest verzeihen?

Was, wenn die Rente reicht zum Leben und das Leben für die Rente? Was, wenn das Stechen in der Brust am Morgen kein Herzinfarkt ist, sondern lediglich die Lesebrille, auf der du die ganze Nacht gelegen hast? Und was, wenn die Enkel dich besuchen kommen, auch wenn du gar nicht mehr weisst, dass du Enkel hast?

Was, wenn alles gut wird?

Savon d’Alep – Was geht mich Syrien an?

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 21. April 2017

Mein Duschmittel kann mehr Latein als ich. Lesen Sie mal die Inhaltsstoffe durch. So viel Vergil, nur damit wir nicht stinken. Und am Schluss geht die ganze klassische Chose den Bach runter. Wahnsinn. Dubiose Chemikalien, viel Plastikmüll: Vor kurzem sagte ich deshalb meinem Duschgel Adieu und kaufte mir stattdessen eine Duschseife. «Aber bitte ohne Palmöl», sagte ich in der Apotheke, denn «Sodium Palmate pfui est», wie der Lateiner zu sagen pflegt. Die Verkäuferin reichte mir einen unansehnlichen ockerfarbenen Mocken mit arabischen Schriftzeichen drauf. 78 Prozent Olivenöl, 12 Prozent Lorbeeröl, Natronlauge. Simpler geht Seife nicht.

Erst zu Hause las ich, was auf der Packung stand: «Savon d’Alep. Fabriqué en Syrie». Und auf einmal war der Krieg ganz nah. Hautnah.

Ich sah die Fernsehbilder des umkämpften Aleppos vor mir: Helfer, die tote Kinder aus den Trümmern zerren; Spitäler und Wohnviertel, auf die Assad hatte Fassbomben werfen lassen.

Sechs Jahre geht das Morden in Syrien jetzt schon. 400 000 Menschen getötet, Millionen auf der Flucht. Wir sehen und lesen es täglich. Und wir nehmen es zur Kenntnis. Zucken mit den Schultern. «Schlimm, aber was will man machen?» Blättern um, zappen weiter.

Jeden Morgen seife ich mich mit der Aleppo-Seife ein und frage mich, was wohl aus dem Seifensieder geworden ist, der sie nach jahrhundertealtem Rezept gekocht hat. Ob er in der zerbombten Stadt ums Leben gekommen ist? Sitzt er in einem von Assads Folterknästen? Oder war vielleicht er derjenige, der die Giftgaskanister ins Kampfflugzeug geladen hatte, das dann Kurs nahm auf Chan Scheichun?

Ich stehe unter der Dusche und spüre Wut und Hilflosigkeit angesichts der Gräuel in Syrien. Ich habe ja keine Marschflugkörper, die ich abfeuern kann. Und einen syrischen Flüchtling aufnehmen? Das liegt leider auch nicht drin. Wir haben ja auch nur eine ­Dusche.

Jeden Morgen wasche ich mich mit Aleppo-Seife, schön geschmeidig macht sie die Haut, aber ich werde das Gefühl nicht los, schuldig zu sein. Wenn wir von dem Leiden wissen und nichts dagegen tun, oder zu wenig (und wie viel ist genug?) – machen wir uns dann nicht mitschuldig wegen unterlassener Hilfeleistung?

Wie reagieren auf das Leid? Spenden? Sich auf Facebook per Mausklick solidarisieren? Mit dem Papst beten? Mit warmen Decken am Strand in Italien auf die durchnässten Bootsflüchtlinge warten? Ich weiss es nicht. Wie stellt man es an, nicht abzustumpfen? Und wie hilft man so, dass die Hilfe wirklich hilft – und nicht nur das Gewissen beruhigt?

Ich wünschte, ich hätte eine Antwort. Aber ich bin ja schon beim Duschen mit meinem ­Latein am Ende.

Übrigens, dieser Text erscheint auch im Blog von «aufbruch», der unabhängigen Zeitschrift für Religion und Gesellschaft.

Ikeanisch

«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 12. April 2017

Zügeln konfrontiert einen immer wieder mit den fundamentalen Fragen des Lebens. Zum Beispiel: Wie viele Inbusschlüssel von Ikea braucht der Mensch? In meinem Fall sind es 23, ich habe beim Kistenpacken nachgezählt. Viele der Pressspanmöbel, die ich damit einst zusammengeschraubt habe, sind längst entsorgt, zu Fleischbällchen verarbeitet und im Ikea-Restaurant an übellaunige Kinder verfüttert worden, die während der Einkaufstour der Eltern im Kinderparadies bis auf den Grund des Bällebads getaucht sind und jetzt die Haare voller fremder Popel haben. Das Geheimnis liegt übrigens in der Sosse.

Die Möbel sind weg, aber sämtliche Inbusschlüssel seit meiner ersten Wohnung vor 20 Jahren sind noch da. Man kann über den blau-gelben Möbelriesen sagen, was man will, aber die Inbusschlüssel, die halten.

War es eigentlich auch die Ikea, die mit der Unsitte angefangen hat, Möbeln Namen zu geben? Früher war ein Stuhl ein Stuhl ein Stuhl. Heute heisst er wie du und ich. Neulich sass ich bei Freunden am Esstisch, wartete auf das Dessert und hörte es aus der Küche murmeln: «Beim Stefan sind alle Schrauben locker, der machts nicht mehr lange.» Erst als mein Stuhl mit Getöse alle viere von sich streckte, merkte ich, dass meine Freunde über die maroden Sitzmöbel gesprochen haben und nicht über mich.

Und wer sein Ehe-Lotterbett beim Schweden kauft, dem gerät jedes erotische Tête-à-tête unfreiwillig zum flotten Dreier – denn «Hemnes» ächzt mit.

Überhaupt, wer denkt sich diese Möbelnamen aus? Samla, Knarra, Pappis, Godmorgon. Sitzen irgendwo in Schweden ein paar verkrachte Schriftsteller in einem Grossraumbüro am Pult Arkelstorp, bechern den ganzen Tag Glögg und machen sich einen Spass draus, Namen zu erfinden, die tönen, als würde ein betrunkener Elch eine Schreibmaschine traktieren? Und hat die UNO Ikeanisch inzwischen als offizielle Sprache anerkannt? Aber ich will nicht nur meckern. Es steckt ganz viel poetisches Potenzial in so einem Ikea-Katalog. Man muss es nur sehen. Eine Kostprobe gefällig?

Fakse Näckten

Fakse Näckten Läckö

Knubbig, Snuttig, Himmelsk

Läckö Fakse Näckten

Möckelby Sinnelig?

Billsta Tingby Sinnelig?

Rydebäck? Morliden?!

Oxberg!!

Falls Sie das jetzt nicht verstanden haben. Es geht darin um eine Tischleuchte (Sinnelig), die in unerwiderter Liebe zu einem Langflor-Teppich namens Fakse entbrannt ist. Und wenn Sie finden, das Poem komme auf gar wackligen Versfüssen daher – ich hätte da noch ein paar Inbusschlüssel.