Das 2:5 ist meine Schuld

WM-Glosse in den Freiburger Nachrichten vom 23. Juni 2014

Ich bin schuld daran, dass die Schweiz gegen Frankreich so schmählich verloren hat. Nicht Benaglio. Nicht Lichtsteiner. Nicht Shaqiri. Schon gar nicht Hitzfeld. Ich ganz allein. 

Ich hätte die Fahne aufheben sollen, dann wäre alles anders gekommen. Sie lag mitten auf der Kreuzung. Beauregard-Midi. Ein kleines Schweizer Fähnchen, wie man es in den Tankstellenshops gratis bekommt, wenn man zwei Kästen Bier, einen Sack Holzkohle und 35 Cervelats kauft. Eines jener Fähnchen, die sich Fans an ihr Auto montieren. Nun lag es auf der Strasse, zerknittert, dreckig. Sieben Stunden vor dem Anpfiff. Es musste von einem Schweizer Fan-Mobil abgefallen sein. Vielleicht hatte der Fahrer es nicht fachmännisch montiert, vielleicht war das hehre Tuch billige Chinaware, das dem Fahrtwind nicht standgehalten hatte. Vielleicht hatten sich auch zwei Autos gekreuzt, beide beflaggt, ein Schweizer Fan und ein Anhänger der «Bleus». Sie waren sich gefährlich nahegekommen – und die Trikolore hatte mehr Standfestigkeit bewiesen.

Wie auch immer: Ich sass im Bus, sah aus den Augenwinkeln die geschändete Standarte und wusste instinktiv, was ich tun musste. Oder hätte tun sollen. Denn wenn ich eines gelernt hatte aus den unzähligen Römer-, Ritter- und Kriegsfilmen, die ich gesehen habe, dann dies: Der General mochte taktisch noch so gewieft sein, die Sturmspitze noch so furchtlos – lag die Fahne erst am Boden, dann war die Schlacht vorbei und der Krieg verloren.

Unter lauten «Hopp Schwiiz»-Rufen hätte ich aus dem Bus stürzen sollen. Todesmutig hätte ich durch den dichten Verkehr in die Mitte der Kreuzung hechten und das Fähnlein hochheben sollen, bevor ein Lastwagen voller Gänseleber es überrollen würde. Rings um mich hätten die begeisterten Fans gehupt und Fahnen geschwenkt. Ich wäre der Held gewesen.

Wahrscheinlich wäre ich auf der dicht befahrenen Kreuzung auch einfach unter die Räder gekommen. Und ich hatte keine Lust, einen filmreifen Heldentod zu sterben. (Die über mich gebeugten Sanitäter schütteln traurig den Kopf. Mit einer Träne in den Augen und dem Ausdruck grimmigen Patriotismus–«Sein Tod war nicht umsonst» – nehmen sie die Fahne aus meiner kalten Hand. Zoom auf das wehende Schweizerkreuz. Überblendung zum Schweizer Siegestreffer gegen Frankreich. Ende.) Ich hatte eigentlich überhaupt keine Lust, zu sterben. Und der Bus fuhr weiter. Und ich musste zur Arbeit.

Den Rest kennen Sie ja. Jetzt wissen Sie auch, wer es vermasselt hat.

Exgüsi!

Für immer himmelblau

WM-Glosse in den Freiburger Nachrichten vom 21. Juni 2014

Mein Herz schlägt höher beim Treppensteigen, nicht beim Fussballgucken. Aber als Luis Suárez Uruguay zum 2:1-Sieg gegen England schoss, da hüpfte mein Herz für einen kurzen Moment wie der Brazuca auf dem brasilianischen Rasen. Ich bin kein Fan, aber der uruguayischen Nationalelf bin ich etwas schuldig.

Das kam so. 1986 kickten Uruguay und 23 andere Teams in Mexiko um den Weltmeistertitel. Ich war neun Jahre alt damals, und auf dem Pausenplatz unserer kleinen Primarschule im Luzernischen grassierte das Panini-Fieber. Alle anderen hatten dicke Stapel der farbigen Fussballer-Helden, vor und nach der Schule wurde heftig getauscht und gefachsimpelt. Nur ich stand abseits. Denn ich hatte keine Panini-Bildli (Sackgeld knapp, die Eltern Fussball-Abstinenzler, ich uncool) und schon gar keine Ahnung von Fussball. (Erst Jahre später kapierte ich, wieso meine Schulkameraden «Henz!» brüllten, wenn beim Tschutten jemand den Ball mit den Händen berührte.)

Irgendwann erbarmten sich meine Gspändli meiner und schenkten mir jene Kleber, die als Tauschobjekte keinen Wert hatten – und das waren die Tschütteler aus Uruguay. Ob Panini aus Versehen zu viele davon gedruckt hatte oder ob die Südamerikaner bei Luzerner Landeiern einfach nicht beliebt waren, weiss ich bis heute nicht. Jedenfalls hatte ich nach und nach die gesamte uruguayische Mannschaft zusammen, auch das Mannschaftsbild und sogar das Wappen. Ich glaube mich noch heute an dessen silbriges Schimmern zu erinnern. Und an das wohlige Gefühl, dazuzugehören.

Dann ging die WM zu Ende, Uruguay war in den Achtelfinals ausgeschieden, die Sommerferien kamen und die klebrigen Uruguayer landeten irgendwann im Abfall. Trotzdem habe ich nie vergessen, was sie 1986 für mich getan haben. Darum: «Soy celeste!» Ich bin himmelblau, wie die uruguayischen Fans singen. Himmelblau für immer.

Ein Fussballsommermärchen

WM-Glosse in den Freiburger Nachrichten vom 12. Juni 2014

Wahrscheinlich waren es die gegrillten Hühnerherzen vom brasilianischen Buffet. Vielleicht hatte ich auch einen oder zwei Caipirinhas zu viel geschlürft. Jedenfalls hatte ich einen seltsamen Traum. Seltsam, aber sehr schön. Ein wahres Fussballsommermärchen.

Die Fifa hatte die WM-Stadien und Fanmeilen kurzerhand zu sponsorfreien Zonen erklärt. In die Lücke sprangen die lokalen fliegenden Händler, die das Geschäft ihres Lebens machten und sich nach der WM zur Ruhe setzen konnten. Die Näherinnen in den Textilfabriken erhielten für jedes gefertigte Fussball-Shirt die Hälfte des Schweizer Ladenpreises und eigneten sich in einer unfreundlichen Übernahme Adidas und Puma an.

Sepp Blatter nahm den Fifa-Slogan «For the Game. For the World» endlich ernst und entmachtete sich in einem letzten diktatorischen Akt selbst. In seinem eigentümlichen Englisch erklärte der Ex-Fifa-Präsident, fortan nur noch den Rasen am Fifa-Hauptsitz zu mähen und seinen Mindestlohn ordentlich zu versteuern.

Und natürlich hatten sich die Schweizer Tschütteler ins Final gekickt. Als es nach der Verlängerung gegen den Iran immer noch 10:10 unentschieden stand, beschloss der isländische Schiedsrichter in einem wahnwitzigen Anflug von Übermut – er selber sagte später, Gott hätte seine Hand im Spiel gehabt –, dass der Weltmeister für einmal nicht im Penalty-Schiessen, sondern im Sambatanzen erkoren würde. Vom Rasenmäher aus gab Blatter seinen Segen, um den ihn niemand gebeten hatte. Zum Erstaunen aller protestierten die Iraner nicht, sondern legten eine heisse Show hin, wurden aber allesamt vom mitreissenden Hüftschwung des Schweizer Ersatzgoalies vom Platz gefegt, der deswegen als Yann «Sambafüdli» Sommer in die Fussball-Annalen einging.

Trainer Ottmar Hitzfeld weinte heisse Freudentränen und verkündete, einen schöneren Abschied könne es für ihn nicht geben. Sein Rückflugticket verschenkte er an ein fussballversessenes Mädchen aus den Favelas. Den verblüfften Journalisten verkündete er, er werde sich künftig um den Schutz des bedrohten «Tatu-bola»-Gürteltiers kümmern, damit das WM-Maskottchen nicht nur als Plüschtier überleben werde.

Sportminister Ueli Maurer verlor im Laufe der feucht-fröhlichen Siegesfeier erst seinen Pass, dann alle Hemmungen und letztlich das Bewusstsein. Drei Tage später klopfte er leicht bekleidet, aber gut gelaunt an die Tür des belgischen Konsulats in Rio und verlangte politisches Asyl in der EU.

Kurz, alles war perfekt. Bis mich der einsame Torjubel meines deutschen Nachbarn aus meinem süssen Traum riss. Ich rieb mir die Augen und wusste, dass alles war wie immer: Der Ball ist rund, ein Spiel dauert 90 Minuten und am Schluss gewinnt die Fifa.

Heuschrecken am Telefon

«Übrigens» in den Freiburger Nachrichten vom 15. Februar 2014

Hätte es zu Moses’ Zeiten schon Telefone gegeben, Gott hätte die Ägypter nicht mit Heuschrecken heimgesucht, sondern mit Telefonverkäufern. Denn die sind eine wahre Plage. Zum Beispiel Christelle vom Laboratoire Ouchy- Vichy-Waschi aus Lausanne, die regelmässig morgens um neun anruft, um mir die ewige Jugend anzudrehen – für königliche 69.90 pro fünf Milliliter Gelée. Oder die nette Dame von der Firma Bucarest Security, die einen Fachmann vorbeischicken will zur kostenlosen Analyse der Einbruchssicherheit meiner Wohnung – gerne auch abends. Oder Thomas, der mir in einem indisch gefärbten Englisch weismachen will, dass mein Computer sich ins digitale Nirwana verabschiedet, wenn ich nicht sofort seine Anti-Viren-Software kaufe, die er mir zu einem überteuerten Preis anbietet. 

Das Schlimmste dabei ist: Die geben nicht auf. Egal, ob ich höflich bleibe, kommentarlos aufhänge oder unter wüsten Flüchen den Hörer auf die Gabel knalle – mit dreister Hartnäckigkeit probieren es dieselben lästigen Leute immer wieder aufs Neue.

Entnervt reichte ich eines Tages den Hörer meiner dreijährigen Tochter weiter. Sie telefoniert leidenschaftlich gerne und will mit allen Leuten plaudern, die meine Frau oder ich am Draht haben. Zuerst hörte sie Christelle vom Lausanner Laboratoire fünf Minuten lang wortlos zu. Dann beschloss meine Tochter, dass nun die komische Frau dran sei mit Zuhören und stimmte lauthals «O Tannenbaum» an (Saisonalität ist noch nicht so ihr Ding), das sie fröhlich mit «Tschu-Tschu-Tschu, e Isebahn chunt» mischte (Tonalität übrigens auch nicht). Dazu tanzte sie ausgelassen in der Stube herum. Und je wilder sie tanzte, desto lauter sang sie.

Das wirkte. Christelle rief nicht mehr an. Auch kein anderer Telefonverkäufer. Eine Woche lang war es herrlich ruhig. Bis uns auffiel, dass unser Telefon tot war. Meine Tochter hatte nämlich in ihrem Überschwang beim Tanzen das Kabel aus der Buchse gezerrt–eine radikale, aber effektive Lösung für das Telefonverkäuferproblem. Einen Moment lang war ich versucht, das Telefon überhaupt nicht mehr einzustecken. Tat es dann aber trotzdem. Es verging kein halber Tag, bis es klingelte. «Hello, this is Thomas, I’m calling because of your Microsoft computer …», tönte es aus der Muschel. Ich wollte schon zu einer wüsten Tirade ansetzen, als meine Tochter aus ihrem Zimmer gehüpft kam. «Wer isch es, Papi?», fragte sie. «Thomas aus Indien. Ich glaube, er kennt ‹O Tannenbaum› noch nicht», sagte ich und streckte meiner Tochter den Hörer entgegen.