«Übrigens» in den «Freiburger Nachrichten» vom 1. April 2025
Täglich aufs Neue setze ich Prioritäten. Das Problem: Trotz grünem Daumen wollen sie nicht so recht spriessen in meinem Gedankengärtchen. Was daran liegen mag, dass ich vielseitig interessiert bin. Sprich, mich gerne ablenken lasse. Wo war ich noch gerade? Genau, Prioritäten setzen. Staubsaugen zum Beispiel hätte aktuell höchste Priorität. Unter dem Sofa tanzen die Staubmäuse. Und auf dem Fensterbrett liegt noch der Saharastaub vom letzten Jahr.
Doch kaum nehme ich den Staubsauger zur Hand, sehe ich durch die Terassentür einen Vogel im Garten sitzen, den ich noch nie gesehen habe. Schwupps, schon macht die Priorität Staubsaugen die Flatter. Unbedingt will ich jetzt wissen, was das für ein Federvieh ist. Ein Bluthänfling, bin ich nach dem Studium verschiedener Bestimmungsbücher sicher. Und schon vertiefe ich mich in den Gesang des Bluthänflings, der meist mit wiederholtem «gigigigi» beginnt, denen der Finkenvogel dann ein hastiges Gemisch von kurzen Lauten und Trillern hinterherschickt wie «piuu», «trrrüh» und «tu-ki-Jüü».
Ornithologie wäre ein schönes Hobby für die zweite Lebenshälfte, denke ich, und mache mich im Internet kundig, ob ein Spektiv oder ein Fernglas besser geeignet ist für die Vogelbeobachtung. Und weil Ricardo nur einen Mausklick entfernt ist, suche ich gleich nach einem geeigneten Second-Hand-Feldstecher. Lasse mich dann aber von den eingeblendeten Inseraten ablenken. Wieso will mir das Internet einen Staubsaugerroboter andrehen? Ich widerstehe dem Kaufreflex und google stattdessen, was Saharastaub anrichtet (er macht das Amazonasbecken fruchtbar und lässt als Kondensationskeime Hurrikane entstehen)). Diese Frage trieb mich schon lange um. Wieso eigentlich?
Als ich mein Handy weglege, sehe ich den Staubsauger und packe ihn wieder zurück in den Schrank. Ordnung hat bei mir immer oberste Priorität. Ausser bei den Prioritäten. Weshalb ich erst jetzt merke, was meine eigentliche Priorität für heute gewesen wäre: Ein neues «Übrigens» für die «Freiburger Nachrichten» zu schreiben.
Ich öffne die Terrassentüre: Frische Luft bringt frische Ideen. Ich setze mich an den Laptop, pfeife gedankenverloren «Gigig-gigi-gigi-gigi, piuu, trrrüh, tu-ki-jüü, tu-ki-jüü» vor mich hin (wo habe ich das nur wieder aufgeschnappt?) und merke gar nicht, wie der Frühlingswind so heftig durch die Terrassentür bläst, dass er die Staubmäuse unter dem Sofa in einem Wohnzimmerorkan aufwirbelt und mit sich fortträgt. Vielleicht nicht gleich bis ins Amazonasbecken. Aber weg ist meine vermeintliche Top-Priorität auf jeden Fall.
Vom Winde verweht.
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